Vorweg: Das viel zitierte Sommerloch gibt es bei mir nicht. Jedenfalls nicht, wenn damit eine nachrichten- oder ereignisarme Zeit gemeint ist. Kürzlich war ich nach sehr langer Zeit wieder einmal in Meißen. Doch statt Porzellan hat mich etwas anderes motiviert. Und es war nicht beruflich.

Albrechtsburg
Meine erste Erinnerung an Meißen liegt mehr als fünf Jahrzehnte zurück. Im Sommer vor meiner Schuleinführung besuchte mein Vater mit mir die sächsische Kleinstadt. Was genau wir damals besichtigten, weiß ich nicht mehr. Es vermischt sich mit späteren Erinnerungen an die Porzellanmanufaktur, den Dom oder die Albrechtsburg. Was ich jedoch noch ganz genau weiß: In Meißen verspeiste ich den ersten Eisbecher meines Lebens. Anfang der 1970-er Jahre nichts Alltägliches. Genauso wie Bohnenkaffee unter der Woche für die Erwachsenen.

Hahnemann-Platz
Die Zeiten haben sich geändert. In vielfacher Hinsicht. Nun also wieder Meißen. Mit der S-Bahn ist die Stadt von Dresden aus in weniger als einer Dreiviertelstunde entspannt zu erreichen. Ich war nicht vorbereitet, sonst hätte ich mir wohl aus Gewohnheit ein Ganztagsprogramm für die Geburtsstadt des Begründers der Homöopathie zusammengestellt. Stattdessen begleitete ich kurz nach dem einjährigen Todestag meiner Mutter den 86-jährigen Vater, der auch als Stadtführer fungieren könnte, durch die Altstadt. Was für Anekdoten er erzählen kann!

Görnische Gasse
Mein erster Eindruck: Hier wurde und wird viel saniert. Eine attraktive Kleinstadt. Aus der Ferne irgendwie unterschätzt. Auch von mir. Idyllisch und versteckt gelegene Restaurants mit Blick auf die Triebisch oder Cafés im Altstadttrubel. Kulinarische Besonderheiten. Galerien, Kunstwerke mitten in der Stadt, witzige und vielfältige Läden, Haustüren mit Sitzecken. Und die Kirchen … Pensionen und Ferienwohnungen, die man auf gängigen Buchungsplattformen nicht findet. Bezahlbarer Wohnraum im Altbau laut Anzeigen an Innenstadtfenstern. Ich staune. Meißen scheint Lichtjahre weg von Berlin und doch nehme ich einige Inspirationen mit.

Das kleine Wohnzimmer
Das von der Städtebauförderung ermöglichte Kunstprojekt „Das kleine Wohnzimmer“ lädt zum Krafttanken auf einem Porzellansofa ein. In der Neugasse fällt eine Wandmalerei an einem Haus auf.

Der dumme Junge von Meißen
„Der dumme Junge von Meissen“ steht in Großbuchstaben über dem Gasthaus „Zum Bienenkorb“. Was es damit auf sich hat, finde ich im Stadtwiki. Die Sage erzählt vom Gänsejungen Klaus, der im Anblick eines Kurfürsten-Überraschungsbesuchs alles vergisst, später aber am Hof für Heiterkeit gesorgt haben soll. „Ornee“ und „Is mir dor schnuppe“. Am Schaufenster der Änderungsschneiderei amüsiere ich mich über auf Basecaps gestickte sächsische Redensarten. In der Frauenkirche am Markt, deren Kapelle erstmals im Jahr 1205 (!) erwähnt wird, bewundere ich das Porzellanglockenspiel.

Meißen mit Frauenkirche
Schlussendlich geht es natürlich noch zum Dom. Zu Fuß, nicht mit dem schrägen Aufzug. Der Ausblick von der Plattform auf die Elbe begeistert. Im Raum der Stille fällt mir ein Gebetszettel zum Mitnehmen in die Hände. Ich lese ihn in Ruhe erst auf der Heimfahrt. Und auch als Atheistin kann ich mir vorstellen, dass „Ein Gebet in der Erschöpfung“ der mir vorher unbekannten Marie Noël in bestimmten Situationen hilfreich sein kann. Ich teile es deshalb hier:
Mein Gott, ich liebe dich nicht. Ich will es nicht einmal. Ich bin deiner überdrüssig. Vielleicht glaube ich überhaupt nicht an dich. Aber sieh auf mich im Vorübergehen. Wenn du Lust hast, dass ich an dich glaube, dann gib mir den Glauben. Wenn du Wert darauf legst, dass ich dich liebe, dann gib mir die Liebe. Ich habe von all dem nichts, und ich kann nichts dazu tun. Ich gebe dir, was ich habe: Meine Schwäche, meinen Schmerz Und diese Zärtlichkeit, die mich peinigt, und die du wohl siehst … Das Elend meines Zustands – das ist alles – Und meine Hoffnung.

Raum der Stille im Dom zu Meißen
Kein Grund zur Sorge. Der Ausflug in die Kleinstadt hat mir verdeutlicht: Geschichten gibt es überall. Auch wenn nicht immer eine große Story daraus wird.
Fotos: Dagmar Möbius