Plötzlich Expertin für Ost-Themen

Kurz vor dem 35. Tag der deutschen Einheit nahm ich an einer Feier teil, die anders war als vieles Offizielle. Und gefeiert habe ich noch einmal.

Sichtbares und Fremdwahrgenommenes

Identity Shifts. Malerei von Andrea Hentze und Nadine Rössel.

Mittwochabend, zwei Tage vor dem eigentlichen Feiertag. Vernissage und Filmvorführung im Beisein der Regisseurin. Das Publikum überschaubar. Dafür Zeit für ausgiebiges Kunstbetrachten und Reden nach dem Film. Unter den Gästen eine junge Frau, die ich von Netzwerktreffen kannte. Wir sprachen über den Beginn ihrer Selbstständigkeit und alltägliche Hürden. Sichtbarkeit und den damit verbundenen Mut. Zweifel. Kleine Erfolge. Die junge Unternehmerin wurde nach der Wende in Westdeutschland geboren und interessiert sich für Entwicklung und Transformation. Sie sagt: „Das passt, dass ich Dich hier treffe. Du schreibst doch viel über Ost-Themen.“ Ich stutze zuerst, weil das zwar stimmt, es aber nicht meine Hauptschwerpunkte sind. Mir wird klar, dass ich als Expertin wahrgenommen werde. Tatsächlich werde ich sehr oft gefragt, ob dieses und jenes irgendwo Gehörte sein kann, wie man wo etwas zu bestimmten Fragestellungen herausbekommt usw.

Erlebtes und Recherchiertes

Porzellanfigur „Dagmar“, Entwurf von Helmut Schulz (1960), MEISSEN

Nun bin ich also „Zeitzeugin“. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich dieses Jahr 60 werde. 25 in der DDR gelebten Jahren stehen 35 in der Bundesrepublik gelebte Jahre gegenüber. Mit ihnen jede Menge Erlebnisse, nicht nur schöne. Als Expertin für Ostdeutschland sehe ich mich trotzdem nicht, auch wenn ich zu einigen Aspekten geforscht habe. Ich liebe meine Heimat. Die lag und liegt nun einmal im Osten. Ich möchte Geschichten vor dem Vergessen bewahren und Stimmen zu Wort kommen lassen, die ungehört bleiben. DDR-Aufarbeitung gehört dazu. Die wird nicht leichter, je mehr Jahrzehnte vergehen. Nach wie vor veröffentliche ich nicht alles, was mir bei Recherchen begegnet. Die unerwartete Enttarnung von IM ist so ein wunder Punkt. Wem nützt es? Besser: Wem nützt es heute? Ist das Wissen über den eigenen Kosmos hinaus relevant? Meist entscheide ich mich dafür, die Dinge ruhen zu lassen. Nicht aus fehlender Konfliktfähigkeit. Sondern, weil Aufmerksamkeit zur emotionalen Betroffenheit keinen Mehrwert bringen würde und Fragen nicht mehr geklärt werden können.

Wertvolles und Zerbrechliches

Sonderausstellung „Die Blauen Schwerter. MEISSEN in der DDR“

Auch ich weiß vieles nicht, was sich auf ostdeutschem Gebiet vor der Wende abgespielt hat. Ich lerne laufend dazu. In der Ausstellung „Die Blauen Schwerter – MEISSEN in der DDR“ im Japanischen Palais in Dresden staunte ich nicht schlecht, als ich Porzellanfiguren mit meinem Vornamen in einer Vitrine entdeckte. In unmittelbarer Nähe von Büsten von Rosa Luxemburg, Wilhelm Pieck, Wladimir Iljitsch Lenin und anderen Persönlichkeiten der Geschichte. „Dagmar“ – einmal als stehendes Mädchen mit Buch und einmal sitzend. Geschaffen 1958 und 1960 von Helmut Schulz (1906-1984). Sie sind ein Beispiel für den politischen Einfluss der DDR-Regierung auf die Arbeit der Porzellan-Manufaktur. Speziell Walter Ulbricht hatte Darstellungen von aktiv tätigen sozialistischen Menschen vermisst. „Dagmar“ sollte junge, zukunftsgewandte Frauenfiguren verkörpern. Darüber hinaus bietet die bis Februar 2026 laufende Sonderausstellung Erkenntniszuwachs zu Architektur, Export, Herstellungs- und Maltechniken, Unikaten, einstigen Staatsgeschenken, verschollener Kunst am Bau und vielem mehr. Lohnt sich. Geschichten und Zeitzeug*innen suchen die Ausstellungsverantwortlichen übrigens auch. Katharina Witt, aber auch nicht prominente Menschen, haben Exponate bereits zur Verfügung gestellt.

Fehlendes und Unvollendetes

Zurück zum Einheitsjubiläum. Offiziell diesmal begangen in Saarbrücken. Dass die Sicht der Ostdeutschen dabei oft vergessen wird, wurde auch 2025 kritisiert. Kein einziger Redebeitrag aus dieser Sozialisation. Was zu tun ist, ist bekannt. Die Bundeskanzler wünscht sich mehr Anstrengung, mehr Mut und weniger Pessimismus im Land.

Nun ja. Ich war nicht im Saarland, sondern in meiner Heimatstadt. Die Wünsche der Menschen, die ich gesprochen habe, waren sehr konkret. Gesundheit. Frieden. Stabilität. Konsequenz. Entspannung. Zuverlässigkeit. Pünktliche, nicht überfüllte Züge. Gefeiert und den freien Tag genossen haben viele trotzdem vor Ort.

Musiker IC Falkenberg

Und weil mich einige gefragt haben, wer der musikalische Wegbegleiter sei, mit dem ich am Tag der Einheit gefeiert habe: Mit 700 anderen, die auf „intellektuellen Scheiß“ stehen, hatte ich das Glück, das zweite von zwei Jubiläumskonzerten „40 Jahre IC Falkenberg“ zu erleben. Kann was, nicht nur stimmlich, hat was zu sagen, macht sein Ding. Rebell auf Lebenszeit. Freigeist. Seelenmensch. Und ostdeutsch. Fragen?

 

 

Fotos: Dagmar Möbius

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