Schon wieder bald Weihnachten. Das ist keine Nachricht, sondern die Erkenntnis, dass das zurückliegende Jahr scheinbar gerast ist. Wie immer lagen mehr Themen auf dem Tisch, als ich bearbeiten konnte. Drei Beispiele und ein weiterlaufendes Projekt.
Ein Kriminalfall, der sich eine Woche vor Weihnachten 2024 in meiner Heimatstadt ereignete und sich in keiner Polizeimeldung fand, beschäftigte mich das ganze Jahr 2025. Ich konnte vieles zum Hintergrund recherchieren, was über den familiären Fall hinaus relevant ist. Dennoch bleibt die Geschichte vorerst unveröffentlicht.
Nicht abwählbares Ehrenamt auf Zeit
Im April 2025 kürte mich am Flughafen eine kleine Seniorengruppe spontan zur Reiseleiterin. Warum ich die unfreiwillige Funktion nicht abwählen konnte.
„Wir sollten hier Hilfe bekommen, aber es ist niemand da“, spricht mich die Frau eines älteren Ehepaars an. Am Kofferetikett erkenne ich: Wir haben das gleiche Ziel. Ich habe vorab eingecheckt und muss nur mein Gepäck loswerden, bevor ich mich zur Sicherheitskontrolle begebe. Auf meiner Bordkarte ist eine zweite, mir unbekannte, Frau angegeben. Abzuwählen war die Option nicht. Zielsicher steuere ich zum Automaten, der meinen Kofferaufkleber ausspuckt. Meine unbekannte Co-Fliegerin steht neben mir und staunt. Es gibt keine Zufälle. „Nein, diese neumodischen Sachen sind nichts für mich“, meint sie und besteht darauf, am Schalter bei einem echten Menschen einzuchecken. Zum Glück liegen wir gut in der Zeit. Ich lotse meine kleine Seniorenreisegruppe zum Check-in. Geschafft.
Nun noch schnell durch die Security. Doch schnell geht hier nichts. Das Ehepaar hat eine Flasche und einen gefüllten Kaffeebecher dabei. „Ausschütten“, fordert die Beamtin. „Ich muss doch meine Tabletten nehmen und es ist doch nur eine kleine Flasche …“, sagt die ältere Dame und blickt mich Hilfe suchend an. „Darf man leider nicht“, erkläre ich. Die Beamtin fragt nach einer ärztlichen Bescheinigung. Aus der müsste hervorgehen, dass die Patientin zur Medikamenteneinnahme stets so und so viel Milliliter Flüssigkeit mit sich führen muss. Hat sie nicht. Die Beamtin holt einen Vorgesetzten. Er ist unerbittlich. Die Frau muss ihr Handgepäck auspacken. „Ausschütten“, befiehlt er nochmals. Hinter uns staut es sich. „Sie können sich im Transitraum etwas Neues kaufen oder ihre Flasche mit Wasser auffüllen. Es ist noch viel Zeit“, versuche ich zu beruhigen. Vergebens. Aufgewühlt sitzt das Ehepaar am Gate. „Ungerecht! Reinste Schikane.“ Sie verstehen diese Sicherheitsvorkehrungen nicht. Und der Weg zum Abflug ist auch zu weit. Die zwischenzeitlich verloren gegangene einzeln reisende Seniorin 3 gesellt sich zu uns. Wir warten.
Ich bemerke Reni*. Sie reist allein, wartet im Rollstuhl. Hut ab, denke ich. Als meine Boardinggruppe aufgerufen wird, ist Reni schon im Flugzeug. Ein Assistenzdienst hat sie abgeholt und im Flugzeug wie alle Menschen mit Beeinträchtigungen und Eltern mit Kleinkindern bevorzugt platziert.
„Sie haben einen neuen Sitzplatz“, sagt der Steward beim Blick auf seinen Monitor und reicht mir einen Mini-Merkzettel. Kein Problem. Im Gang sehe ich Reni. Sie sitzt am Fenster, ich daneben. Nach einer reichlichen Stunde kenne ich Renis Anamnese. Besser gesagt, den Grund ihrer Reise. Reni ist ein Unfallopfer. „Unverschuldet!“, betont sie. Ein Auto hat sie angefahren, warum weiß sie nicht. Nur, dass sie lange im Koma lag und „alle Knochen kaputt waren“. Heute kann Reni wieder laufen, an Gehhilfen, aber nur kurze Strecken. Den Rollstuhl benötigt sie nicht permanent. Der Weg dahin war lang. Noch immer kämpft sie für weniger Schmerzen, bessere Beweglichkeit, weniger Muskelkrämpfe. Im ungarischen Heilbad erfährt sie Linderung. Drei Wochen bleibt sie. Die frühere Ingenieurin hat alles selbst organisiert, ohne Reisebüro. Aus Kostengründen. Dass es überhaupt möglich ist, verdankt die geschiedene Witwe und verwaiste Mutter ihrem Schmerzensgeld, für das sie jahrelang streiten musste. Welche Tragik in eine reichliche Flugstunde passt und wie positiv Reni trotzdem ist!
Zwei Wochen später treffe ich das ältere Ehepaar wieder. Es war ihre letzte gemeinsame Flugreise: „Wir sind fast 90. Wir waren viele Jahrzehnte in Ungarn und haben uns verabschiedet.“ Ich freue mich, ihnen dabei minimal behilflich gewesen zu sein.
Abstürze durch Versorgungslücken
Deutschland hat ein gutes Sozialsystem. Zumindest auf dem Papier. In der Realität scheitern viele Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen daran, ihnen zustehende Leistungen zu erhalten. Zu oft werden Zuständigkeiten verschoben. Menschen im berufsfähigen Alter, die infolge einer Erkrankung eine medizinische oder berufliche Reha-Maßnahme von der Rentenversicherung bräuchten, landen in Grundsicherung. Zahlreiche Hilfsmöglichkeiten sind nicht bekannt. Auch die Solidarität in Familien wie in der Gesellschaft scheint abzunehmen. Ich werde mich der Thematik im neuen Jahr verstärkt zuwenden.
Psychosoziale Hilfe bleibt Herzensanliegen
Neben meiner journalistischen Arbeit bin ich weiterhin für die Helpline von Netzwerk Recherche tätig. Unser Jahrestreffen Anfang Dezember in Berlin war voller Inspiration und Energie. Obwohl die Fördermittel zwar um ein knappes Jahr verlängert, aber deutlich limitiert wurden, freue ich mich, dass alle ins Projekt Involvierten weiter dabeibleiben.
Übrigens sind die Peers auch zu den werktäglichen Sprechzeiten an Weihnachten, Silvester und Neujahr erreichbar.

Weihnachtliches Magdeburg (2025)
Das weihnachtliche Foto entstand in Magdeburg, wo ich kurz vor dem ersten Jahrestag des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 erneut einen Workshop für Journalist*innen geben durfte.
Ich danke allen Kolleg*innen für die vertrauensvolle Zusammenarbeit im vergangenen Jahr, meiner Familie und meinen Freund*innen für Verständnis und Support, allen an meinen Themen Interessierten für den Austausch.
Ich wünsche allen besinnliche, friedliche und gesunde Weihnachtstage und einen optimistischen Start ins neue Jahr!
*Der Name wurde geändert.
Foto: Dagmar Möbius