Vor einigen Monaten fiel mir eine Bahnhofsschmiererei auf. Es war eine von vielen. Ständig kommen neue Unsinnigkeiten dazu. Dieser Spruch ist inzwischen fast nicht mehr lesbar. Ich bin froh, ihn konserviert zu haben. Nicht, weil ich Vandalismus toll finde, sondern weil er für ein Lebensgefühl steht, das im Jahr 2017 offenbar manchen trug und trotzige Ironie in sich trägt.
Welche konkrete Geschichte dahinter steht, weiß ich nicht. Obwohl ich – inzwischen Pendlerin auf Zeit – täglich die irrsten Storys im Zug höre. Das Leben schreibt die besten Geschichten? Zumindest die wahrhaftigsten. Ich habe handgreifliche Paarstreitereien, Notbremsungen, Alkoholleichen, respektlose Teenies und dauertelefonierende Erwachsene miterlebt. Dazu ausgefallene Züge und Verspätungen, die für eine Woche Urlaub reichen würden. Aber auch Menschen, die Türen aufhalten, Plätze anbieten, nett plaudern oder einfach nur freundlich zunicken.
„Warum schreibst Du das nicht auf?“, werde ich gefragt, wenn ich gelegentlich eine Anekdote im kleinen Kreis zum Besten gebe. Manchmal frage ich mich das auch. Doch meist sind die Erlebnisse zu kurzlebig oder zu beliebig. Der nächste Termin drängt. Weiter im Text. Dazu der Dauerzensor im Kopf: Wen soll das interessieren?
In keinem Zeitraum veröffentlichte ich so wenige Artikel wie im letzten halben Jahr. Nicht nur, weil ich redaktionell eingespannt war oder recherchierte. Ein mir sehr nahestehender Mensch erkrankte schwer. Bis heute habe ich keinen Befund gelesen. Ich habe lange auf einer Krebsstation gearbeitet und erkannte den Ernst der Lage sofort. Instinktiv und rational. Natürlich hoffte ich, hofften alle, auf Genesung. Niemand gibt in solchen Situationen verbindliche Aussagen. Niemand weiß, wie viel Zeit noch bleibt. In Ausnahmesituationen zählt jeder Moment. Einander zuhören. Luft holen. Einfach da sein. Aushalten. Das Unvermeidliche annehmen, so schwer es auch fällt. An Schönes erinnern. Lachen. Ich habe mir bewusst Zeit dafür genommen und Entscheidungen getroffen, die nicht jeder verstand.
Trotzdem: Ein viel zu junger, lebensfroher, hoffnungsvoller Mensch hat den Kampf gegen die Krankheit am Ende des Jahres verloren. In anderen Kulturen hat der Tod weniger Schrecken. Traurig ist er in jedem Fall. Und endgültig. Soll daran irgendetwas Sinnvolles sein? Hunderttausende Angehörige fragen sich das jedes Jahr. In Deutschland starben im Jahr 2015 nur 1.449 Männer und 823 Frauen gleichaltrig, insgesamt 449.512 Männer und 475.688 Frauen, die meisten jeweils in der Altersgruppe der 80-Jährigen (17.274 Männer) bzw. der über 95-Jährigen bei Frauen (33.146). Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Sie würden auch nicht mehr trösten.
„Auf dem Boden der Tatsachen liegt eindeutig zu wenig Glitzer.“ Das könnte heißen: Sch…zustand, aber wo ist der Lichtblick? Gibt es einen? Wenn Todkranke nicht mehr leiden müssen, sprechen Trauerredner oder Pfarrer von Erlösung. Für wen oder wovon eigentlich? Es ist wie es ist. Ich hatte auf dem Friedhof keinen Glitzer dabei. Doch ich bin sicher, dieser verstorbene Mensch hätte welchen ausgestreut. Er liebte und genoss das Leben. Eine glitzernde Erinnerung. Gerade auf dem Boden der Tatsachen. Allen anderen und mir sage ich weiterhin: „Leb‘ den Augenblick.“ Lieber mit Glitzer.