Vermisste Helden vor leerem Saal

In den vergangenen Jahrzehnten schrieb ich nicht nur über Gesundheit, sondern regelmäßig über Musik und ihre Schöpfer. Einstige Kleinkünstler begleiten mich seit 35 Jahren. Ich kenne ihre Songs, ich weiß, wie sie backstage und im echten Leben sind (darüber schrieb ich sehr selten), was ihnen Sorgen bereitet und wofür sie brennen. Exzellente Musikerinnen und Musiker sind dabei, die abseits vom gewöhnlichen Trallala so gut wie nie im Radio gespielt werden. Und das, obwohl ihre Werke Medizin sind oder es sein können. Viele sind weitaus bessere Musiker als Selbstdarsteller. Stille Helden sozusagen. Und überaus systemrelevant.

Das Genre Kleinkunst müsste umbenannt werden, weil es zu Respektlosigkeit verführt. Kleinkünstler werden auf kleinen Bühnen groß. Selten reich. Noch weniger berühmt. Viele dieser im wahrsten Sinn des Wortes Lebenskünstler kennen ernste Durststrecken. Gerade noch mit Weltstars getourt und einige Monate später kurz vor der Obdachlosigkeit. Sie machen trotzdem weiter. Sie können nicht anders. Sie brauchen die (scheinbar) kleinen Dinge. Wir alle brauchen die kleinen Dinge, die uns so selbstverständlich schienen. Wie uns diese seit wenigen Monaten fehlen, merkten wir schnell. Begegnungen, Filme, Gespräche, Lesungen, Konzerte, Treffen.

Allen Kreativen vor und hinter den Bühnen, bei Filmproduktionen, in Verlagen fehlt das ebenso. Aber die Verluste sind nicht nur gefühlt – Existenzen sind akut gefährdet. Über den wenigsten hat sich ein Rettungsschirm aufgespannt. Allenfalls gab’s eine Notfallspritze. Die lindert den Schreck, mehr aber auch nicht.

Artists against Corona wurde von STARKL!film initiiert und produziert. Seit Anfang Mai 2020 ist das virtuelle Theater online.

Viele wache Menschen verbinden mit der gegenwärtigen Krise die Hoffnung, dass sich die Welt bessern möge, dass sie sozialer, gerechter und nachhaltiger wird. Dass wir die kleinen Dinge wieder schätzen. Geben und Nehmen. In dieser Reihenfolge.

Und wieder reagierten Kreativschaffende schnell und konkret, statt auf ein Wunder zu warten: Im ersten virtuellen Theater sind bekannte und weniger bekannte Künstler zu erleben. Artists against Corona unterstützt mit virtuellen Tickets statt mit Spenden. Das ist fair und transparent. Und es lindert den Entzugsschmerz des Publikums, wenn er echt ist. Zudem weckt die Aktion Neugier auf überregional bisher unbekanntere Akteure aus Comedy, Musik, Pantomime, Poetry Slam oder Zauberkunst. Wie beispielsweise die a-cappella-Formation ONAIR, die Duos HazelWood oder Oh Brother, um bei Musik zu bleiben.

Dirk Zöllner Köpenick Connection im virtuellen Theater Artists against Corona.

Ohne Corona gäbe es Dirk Zöllners Köpenick Connection vielleicht nicht. Drei berufsmusizierende Berliner Nachbarn spielen vor einem leeren Saal. Weil Musik ihr Leben ist. Und weil es aktuell nicht anders geht. Im Trio infernale (sonst in anderer Besetzung) ist keiner der Star, niemand applaudiert. Wenn doch, dann unbemerkt vor einem Monitor irgendwo in der Welt. Ich nenne die spontane Bandgründung auf Zeit (aber wer weiß das schon sicher?) hier stellvertretend für unzählige Kulturprojekte, die sich lohnen, entdeckt, gehört und gesehen zu werden. Dirk Zöllner, seit über 30 Jahren Frontmann der Band Die ZÖLLNER, und ich kennen uns seit 1985. Höhen und Tiefen beiderseits inklusive. Von seinen Wurzeln entfernt hat er sich nie. Was authentisch ist, kann und darf ich deshalb beurteilen. „Hallo“ als aktuelle Auskopplung des Albums „Dirk und das Glück“ ist ein solches Lied. Ich gestehe neidlos: Geschriebene Journalistentexte treffen seltener ins Herz und den Nerv der Zeit.

Das ist die besondere Magie von Musik. Wir alle konsumieren sie täglich, oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Kunst und Kultur müssen uns etwas wert sein. Übrigens: im „Hallo“-Video taucht der Sänger erst in der Schlusssequenz auf. Und das, obwohl er mir vor ein paar Jahren sagte: „Erfolg ist die größte Droge.“ Das Glück? Musik. Gern auch mit virtuellem Ticket. Noch lieber: baldmöglichst wieder live.

Fotos: AAC 

 

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