„Wie Therapie, nur besser“

Zum Auftakt des Digitalen Erzählsalons „30 Jahre Deutsche Einheit. Deine Geschichte – unsere Zukunft“ von Rohnstock Biografien im Juni 2020 war ich als Teilnehmerin dabei. Inzwischen haben zwei Staffeln mit 268 Erzähler*innen stattgefunden und es gab etwas zu feiern: eine Buchpremiere am geschichtsträchtigen Ort. Rund 50 Beteiligte des Projektes aus allen Teilen des Landes begegneten sich in Beelitz-Heilstätten zum ersten Mal persönlich.

Dorthin eingeladen hatte Gastgeberin Beate Hoffmann, Gründerin und Betreiberin des Baumkronenpfades. Ihre Geschichte erzählte die gebürtige Hamburgerin nicht nur im digitalen Erzählsalon, sondern nun auch im Buch der Staffel 2.

Hoher Nachrichtenwert, keine Presse anwesend

Es war ein Termin, der mich als Reporterin begeistert hätte. Er hatte alles, was Nachrichtenwert bedeutet:

  • Aktualität (Erscheinungstermin)
  • Geografische Nähe (Veranstaltung in Ostdeutschland, ohne Stau 45 min von Berlin)
  • Prominenz + Überraschung (u.a. eine Ministerpräsidentin a.D.)
  • Exklusivität (nur geladene Gäste, keine öffentliche Veranstaltung)
  • Superlative (noch nie …)
  • Nutzwert (für Teilnehmende, Interessierte, Forschende etc.)
  • Emotion (berührende Geschichten mit auch für Ostsozialisierte teils unbekannten Aspekten)
  • Menschen und deren Geschichten, die man bisher nur aus dem Internet kannte
  • Überraschung + Konflikt (zumindest für mich): kein*e einzige*r Medienvertreter*in anwesend

Der Termin begeisterte mich als Teilnehmerin und als Journalistin. Weil ich am Projekt beteiligt war, kann und möchte ich jedoch keinen redaktionellen Beitrag darüber schreiben. Ich bin nicht unabhängig. Ich weiß, dass Samstagstermine Stiefkinder der (ausgedünnten) Redaktionen sind. Dass eine Chance vertan wird, live mit mutigen Menschen zu sprechen, die sich auf dieses Corona-Experiment mit aller Konsequenz und Sichtbarkeit eingelassen haben, und die so vermutlich nie wieder zusammentreffen werden, finde ich schade.

Fundus ostdeutscher Erfahrungen

Initiatorin Katrin Rohnstock ließ die Meilensteine des Projektes Revue passieren und bekam unzählige Danksagungen, persönlich und für ihr Team. Man müsse ihr auch einen Tourismuswerbepreis verleihen, scherzte die frühere Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht. Sie hatte als Mitglied der Jury Geschichten für das Buch mit ausgewählt. „Mir wurde dadurch bewusst, welch schöne Gegenden in Ostdeutschland ich noch nicht kenne“, sagte sie. Medienwissenschaftlerin Mandy Tröger, selbst auch als Erzählerin der Staffel 1 aktiv, würdigte den Fundus aus ostdeutschen Erfahrungen, den Wissenschaft so nie erheben könnte.

Respektvolles Miteinander

Zum Teil sehr betagten, aber auch jungen, Frauen und Männern war der Weg nach Beelitz-Heilstätten nicht zu mühsam. Ein Teil von ihnen erzählte vom Ringen, sich auf dieses Projekt einzulassen. Einige lasen aus eigenen Geschichten. Das Unperfekte, Ungekünstelte, Echte ist das Erfolgsrezept des Formates. Jede*r ist wie sie*er ist und darf so sein. Frosch im Hals, Lesebrille vergessen, zu wenig Licht – alles menschlich. Der frühere Volkspolizist reicht dem früheren Jugendwerkhofinsassen die Hand. Der frühere Kampftaucher trägt die Bücher der Kirchensängerin. Die Filmproduzentin interessiert sich für die Einsame. So kontrovers die Lebenswege auch sind – man hört sich respektvoll zu. Visitenkarten wurden ausgetauscht, Verabredungen getroffen.

 

“Wie Therapie, nur besser”

Ob die Transformation der bis dato nur live durchgeführten Erzählsalons ins Internet funktionieren würde, war vorher fraglich. 32.000 Aufrufe bei YouTube sind bisher zu verzeichnen. „Wir sind weit weg von Influencer*innen“, ist Katrin Rohnstock bewusst. Mit durchschnittlich 800 Adressat*innen pro Sendung erreichte man aber viel mehr Menschen, als es bei einem Live-Erzählsalon jemals möglich wäre. Zudem zeigen Rückmeldungen, dass das Interesse zeitversetzt steigt. Nicht messbar, aber ein wesentliches Ergebnis: „Die Leute fühlen sich (endlich) gehört.“ Katrin Rohnstock weiß aus Erfahrung: „Erzählen ist wie Therapie, nur besser“. Begleitend läuft eine wissenschaftliche Projekt-Evaluation an der Hochschule Zittau-Görlitz.

Das 384 umfassende Buch enthält 58 Geschichten der Staffel 2. Sie sind gegliedert in die Kapitel „Kunst und Kultur“, „Tourismus und Reisen“, „Wirtschaft“, „Sport“, „NVA, Polizei und Grenze“, „Leben und Wohnen“, „Natur und Umweltschutz“, „International“ und „Heimat“. Es erschien in einer Auflage von 1.000 Stück, ist nicht im Handel erhältlich und kann – so lange der Vorrat reicht – über Rohnstock Biografien bestellt oder als E-Book (6 MB) heruntergeladen werden. Die Geschichten der Staffel 1 wurden als E-Book (3 MB) veröffentlicht.

 

Fotos: Dagmar Möbius

 

Katrin Rohnstock hat das Erzählprojekt während des ersten Corona-Lockdowns 2020 initiiert. Gefördert wurde das Vorhaben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und vom Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer.

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