Lieber Herr Winter, liebe SPIEGEL-Kolleg*innen,
clever gemacht Ihre aktuelle Titelseite. „So isser, der Ossi.“ Ich rege mich schon auf, bevor ich eine Zeile des Aufmacher-Beitrages gelesen habe. Doch der Reihe nach. Ihr Text ist dann weniger reißerisch mit „Der Ost-Komplex“ überschrieben.
Ich bin im Osten geboren und aufgewachsen, also das, was heute als „waschechter Ossi“ durchgeht. Zumindest medial. Als die Mauer fiel, war ich 23, alleinerziehend mit einem sechswöchigen Baby. Das hatte seine ersten Tage auf einer neonatologischen Station ums Überleben gekämpft und niemand wusste, ob bleibende Schäden zurückbleiben würden. Vielleicht erklärt das, warum ich 1989 auf keiner Demo marschierte. Ich habe auch später nie wieder demonstriert. Ich bin lieber für etwas als gegen alles. Ich glaube eher an konstruktive Ideen als an Protest.
30 Jahre später habe ich länger im „östlichen“ Westen gelebt als in der DDR. Es geht mir insofern gut, als dass ich doch noch studieren konnte, auf eigene Kosten, ohne Abitur und mit einem DDR-Staatsexamen von 1988, das bis heute ignoriert und kleingeredet wird. Es hat lange gedauert, bis das Selbstbewusstsein groß genug war, zu genau dieser Vergangenheit zu stehen. Nicht im Privaten, sondern in aller Öffentlichkeit. Einzugestehen, dass die vergangenen drei Jahrzehnte die allermeisten Weggefährt*innen unendlich viel Kraft und Nerven gekostet haben. Anzuerkennen, dass die, die zur Wende beruflich und privat noch auf dem Weg waren, einmal oder mehrere Male von vorn anfangen mussten. Und zu trauern, dass einige heute nicht mehr leben, obwohl sie es bis zur Rente noch weit gehabt hätten.
Ich persönlich, glaube ich, habe keinen Ost-Komplex, wie auch immer man den definieren möchte. Ich arbeite heute in Teams, in denen es unerheblich ist, wo jemand sozialisiert wurde. Das ist ein großes Glück, denn es ermöglicht, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. So bleibt Kapazität, sich um die wirklich wichtigen gesellschaftlichen Probleme wie Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Armut und Wohnungsnot zu kümmern.
Sie werden es nicht glauben, aber ich besitze keinen Wutbürger-Hut. Alle von meiner Oma geerbten Hüte habe ich dem Theater geschenkt. Und da waren echt stilvolle Stücke dabei. Ich schäme mich für den huttragenden Typen, der sich in meiner Heimatstadt Dresden und im Fernsehen zum Affen gemacht hat. So soll der Ossi sein? Und wie ist es eigentlich mit „die Ossi“? Heißt, über die Geschlechterunterschiede der Wende-Transformation oder -Nichttransformation wurde wissenschaftlich mehrfach gearbeitet. Hat es was geändert? Nein.
Politiker*innen nehmen Fehler zur Kenntnis. Korrigieren Sie diese? Wie lange dauert das?
Jahrelang erklärten West-Journalist*innen und Politiker*innen den Osten, wenn sie ihn überhaupt in allen Facetten wahrnahmen. Verbliebene Ost-Journalist*innen haben sich in den ihnen zugedachten Nischen eingerichtet, nach der Wende gewordene Kolleg*innen haben den Beruf verlassen. Längst nicht allen nötigen Themen wird Zeit, Geld und Raum eingeräumt.
Ostthemen nerven, weil sie anders sind. Weil man sich mit Zuständen beschäftigen muss, wenn man verstehen will. Es ist wie bei Trauernden, die unterschiedlich lange brauchen, um ihren Verlust zu verarbeiten. Dieser Aspekt kommt mir in den meisten Debatten zu kurz. Ostdeutsche „Randgruppen“ und einstige Oppositionelle finden bis heute wenig Gehör. Menschen, die Spannendes erzählen könnten, schweigen.
Lieber Herr Winter, Ihr Beitrag versucht vieles zu erklären und wieder gut zu machen, was Gedankenlosigkeit und Ignoranz in drei Jahrzehnten bei manchen Menschen verdorben haben. Jede/r, die/der im Osten lebt, weiß das alles.
Wird die Tatsache, in Ostdeutschland geboren zu sein, eigentlich demnächst in die ICD aufgenommen?
Ossis sind nicht krank. Sie haben in 30 Jahren einen der größten geschichtlichen Wandel bewältigt. Die einen gut, die anderen mit Blessuren. Anerkennung gab es dafür kaum bis gar nicht. Auf die Couch müssen die Wenigsten. Nur gehört werden. Empathisch. Nicht von oben herab. So wie Sie das, Herr Winter, getan haben. Ich vermute, mit dem Cover sind Sie auch nicht glücklich. Denn wie will Ihr Magazin Geschichten aus dem Ruhrgebiet oder anderen gefühlt oder tatsächlich abgehängten Gegenden bebildern?
Ach so, und die Blauen wähle ich übrigens nicht. Grundsätzlich. Weder in Sachsen noch in Brandenburg.
Herzlichst, Ihre Dagmar Möbius
Screenshot: Der SPIEGEL 35/2019
Foto: Dagmar Möbius
Hallo Frau Möbius,
herzlichen Dank für Ihre Reaktion. Und es freut mich natürlich immer, wenn ich journalistische Vorlagen liefern kann.
Wenn Sie den Text gelesen haben, dann wird Ihnen aufgefallen sein, dass der geschichtliche Wandel und die damit verbundenen Probleme einen breiten Raum darin einnehmen. Ich habe sehr viele Zuschriften zu dem Titel bekommen. Aus Ost und West. Die meisten loben gerade seine Sachlichkeit und eine Berichterstattung auf Augenhöhe. Von „oben herab“, wie Sie es beschreiben, ist der Titel ganz sicher nicht. Ich bin in der DDR geboren, ich lebe seit Jahrzehnten hier. Wie soll ausgerechnet ich eine andere Perspektive, also von oben, haben?
Über das Titelbild haben wir gestritten. Auch in der Redaktion. Entworfen hat es die Chefin der Titelbildredaktion, die aus Brandenburg stammt. Sie wollte damit den Westdeutschen den Spiegel vorhalten und das Klischee entzaubern. Der Hut ist dabei natürlich ironisch gemeint. Der eine mag es, der andere nicht.
Hallo Herr Winter,
[…] Mein Tenor sollte nicht sein, dass Sie von oben herab berichtet haben – Ihr Artikel ist ausgewogen, sachlich und empathisch – und dazu noch gut zu lesen.
Ich hinterfrage eher die Kategorie „Ossi“ und sage, dass es m.E. nicht DEN Ossi gibt. Und ich habe genauso boulevardesk angeteasert, was ich sonst eher selten mache.
Ehrlich gesagt, die Ironie hatte ich auf Anhieb nicht erkannt, aber das ist egal, denn der Spiegel hat erreicht, was ich sonst nicht gemacht hätte: dieses Heft gekauft und auch gelesen. Deshalb: „clever“. Man hätte kaum anders viele Leser*innen ins Thema ziehen können. […]