Warum der Nachwuchs so wütend ist

Mein voriger Blogbeitrag entstand vor den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am ersten Septemberwochenende 2019. Die Ergebnisse in beiden Bundesländern lösten wegen der Gewinne für Blaue und Grüne und der Verluste für Schwarz und Rot bekanntlich heftige Diskussionen aus. Nicht nur im Großen, auch in meinen Netzwerken hieß es, sich zu positionieren, Grenzüberschreitungen als das zu bezeichnen, was sie sind: unakzeptabel. „Politik interessiert mich nicht“, ist ein Satz, den heute wohl niemand mehr so hinsagen kann. Ich finde, er ist angesichts der gegenwärtigen Probleme auf der Welt eine Schutzbehauptung. Eine naive Vorstellung, die glaubt, es werde sich schon von allein etwas tun.

Unsere Kinder und Enkel stoßen uns seit Monaten mit der Nase darauf, dass die kranke Welt sich nicht von allein heilen kann. Man kann gegen Schulstreiks fürs Klima sein oder nicht. Drastische Mittel erzeugen Druck. Aus der Pädagogik und Psychologie wissen wir: auffälliges Verhalten ist ein Symptom für etwas, das nicht stimmig ist und sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Jetzt schauen Erwachsene langsam hin. Langsam folgen erste Maßnahmen.

Auch wenn ich inzwischen mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln als mit dem Auto fahre, bin ich keine Umweltaktivistin, erst recht keine Klimaexpertin. Gerade deshalb habe ich mir kürzlich die Ausstellung „Die Erfindung der Zukunft“ im Japanischen Palais in Dresden angeschaut. Der Untertitel der noch bis Anfang November 2019 zu sehenden Exposition: „Von der Suche nach dem guten Leben“. Dort habe ich verstanden, was den Nachwuchs so wütend macht.

Die Sorgen und Wünsche der 15- bis 35-Jährigen

Denn über 500 in Sachsen lebende 15- bis 35-jährige waren zuvor von Wissenschaftlern im Auftrag der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden nach ihren Sorgen, Ängsten und Wünschen bezüglich Wirtschaft und Arbeit, Mensch und Technik, Mensch und Natur sowie sozialem Miteinander in der Region befragt worden. Die Ergebnisse sprechen für sich. 48,3 % der Befragten geben an, unsicher zu sein, ob ihre beruflichen Wünsche in Erfüllung gehen werden.

Gesundheitsbewusst zu leben ist für 55,3 % sehr wichtig, 40,3 % antworteten neutral. Von anderen Menschen unabhängig zu sein, ist für 55 % wichtig, für 7,1 % unwichtig. Eindeutiger ist der Trend bei der Frage, ob alle Menschen ein Recht auf Frieden, Freiheit und Gesundheit haben sollten: 95,4 % der Befragten befürworten das. Sich unter allen Umständen umweltbewusst zu verhalten, ist für 40,1 % sehr wichtig, 50,6 % gaben „neutral“ an und für 7,8 % ist dieser Aspekt unwichtig.

Sicherheit halten 72,5 % der Befragten für sehr wichtig, Fantasie und Kreativität 68,3 %, soziales Engagement 63%. Macht und Einfluss sind dagegen für 41,6 % unwichtig, für 9, 9 % wichtig, der Rest antwortete neutral oder gar nicht. Sich politisch zu engagieren, ist für ein Drittel der Befragten sehr wichtig, „Das Leben in vollen Zügen genießen“ für mehr als zwei Drittel.

Werden Wissenschaft und Technik das Klimaproblem lösen, ohne dass wir unsere Lebensweise ändern müssen? 82,2 % der befragten jungen Menschen meinen „nein“. 74,3 % glauben, dass der Klimawandel, die Nutzung der Ressourcen der Erde und die Umweltverschmutzung die Existenz der Menschheit bedrohen.

Addiert man 13,8 % für Umweltverschmutzung und 12,3 % für Klimawandel zusammen, kommt man auf einen Sorgenanteil von 26,1 %. 11,5 % sorgen sich wegen sozialer Ungerechtigkeit. Am unteren Ende der Sorgenskala steht “die schlechte Wirtschaftslage“ mit 1,3 %.

Kritiker werden hinterfragen, ob die der Ausstellung zugrunde liegende Befragung repräsentativ ist. In Sachsen lebten im Jahr 2017 823.423 15- bis 35-Jährige. Das ist rund ein Fünftel der Gesamteinwohnerzahl (4.081.308 / Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen). Ich meine, für das Suchen nach Lösungen der drängenden Probleme gibt es keine Ausreden.

Die Zeit rennt

„Die Messbarkeit der Zeit bestimmt das moderne Leben. Sie ermöglicht den Menschen, sich in komplexen und arbeitsgeteilten Gesellschaften zu organisieren. Die effizient genutzte Arbeitszeit gilt hierzulande als funktional sinnvoll verbrachte Zeit. Befeuert durch das Wissen über die eigene Endlichkeit lässt der synchronisierte Gleichtakt nur wenig Spielraum, um Maßnahmen zu ergreifen, deren Auswirkungen erst in ferner Zukunft liegen und auch erst dann und sogar nur für die anderen spürbar werden“, sagt Ausstellungskuratorin Noura Dirani.

Die Ausstellung lädt nicht nur zum Konsumieren von Informationen ein, sondern auch zum Mitdenken. Ungewöhnlich auch: (Kunst-)Exponate liegen auf ausrangierten Holzpaletten oder geborgten Regalen – die gesamte Ausstellungsarchitektur ist recycelt, getauscht, geliehen und geschenkt worden. In den sogenannten, von Künstlerinnen und Künstlern geschaffenen, Möglichkeitsräumen darf und soll man aktiv werden. So gibt es eine Selbermach-Werkstatt und in einer Art Zukunftslabor haben Jugendliche sie bewegende Fragen mit Forschenden diskutiert.

Empfehlenswert ist auch der Besuch des Cafés Wilde Flora, das sich als Null-Müll-Versuch versteht und eventuell dauerhaft im Museum etabliert wird. Inspirationen für Küche und Garten lassen sich abschließend im Essbaren Museum im Innenhof sammeln. Hier darf nicht nur gekostet, sondern auch selbst gegärtnert werden. Das begeistert – wie ich feststellen konnte – den städtischen Nachwuchs. Denn der will nicht nur revoltieren, sondern Sinnvolles bewegen.

Gemeinschaftsgarten

Übrigens: der Eintritt zu dieser Ausstellung ist frei.

Fotos: Dagmar Möbius

 

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