Noch vor vier Wochen hätte ich auf die Frage, was zu den dringenden gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland gehört, anders geantwortet als heute. Wohl niemand ahnte, was mit dem Corona-Virus auf alle zukommt. Die Dimension der weltweiten Krise sprengt alles bisher Vorstellbare. Auch für mich.
Alle meine teils lange geplanten journalistischen Termine der nächsten Wochen wurden abgesagt. Keine Kongresse, keine Tagungen, keine Festivals, keine Ausstellungen, keine Treffen. Meine lange vorbereitete erste öffentliche Projektvorstellung fiel aus bzw. wurde auf Herbst verschoben. Aber freie Kollegen, Künstler und viele in anderen Branchen Tätige bangen um ihre Existenz.
Ich habe im Leben schon einige außergewöhnliche, teils schmerzliche Episoden verkraften müssen – Psychologen zählen nichts davon zu den normalen Alltagsbelastungen. Nicht zufällig habe ich vor mehr als 20 Jahren eine psychologische Fachausbildung für Krisenintervention und Notfallnachsorge erfolgreich abgeschlossen. Und nicht zufällig studiere ich jenseits üblicher Studienzeiten noch einmal Psychologie. Glücklicherweise größtenteils online – es geht also weiter.
Es geht immer weiter. Was wie eine Floskel klingt, ist wirklich wahr. Ich habe die DDR überlebt – und auch wenn es manchen Zeitgenossen nicht gefällt: diese Sozialisierung gebar durchaus Nützliches. Menschen entfachen in Krisen besondere Kräfte, werden kreativ und improvisieren. Sind füreinander da, nun virtuell oder telefonisch. Organisieren und behalten ihren Humor. Auch oder gerade, weil die Furcht vor einer Rückkehr in die Mangelwirtschaft bei vielen tief zu sitzen scheint.
Foto: privat
Dies habe ich während der Hochwasserkatastrophe 2002 in Dresden intensiv erlebt, 2013 erneut. Bei der ersten Flut arbeitete ich noch in einer Klinik und dachte – wie alle meine damaligen Kolleginnen und Kollegen – so ein Jahrhundertereignis sei nicht zu toppen. Ich denke im Moment oft an die Zeit von dramatischen (Patienten-)Evakuierungen, tagelangem Sirenengeheul von Feuerwehr und Rettungsfahrzeugen, Überstundenschichten, wenig Schlaf und beruflichem wie familiärem Funktionieren. Mein Gefühl für Entscheidungen, was wichtig ist und was nicht, wurde damals nachhaltig gestärkt.
Ich werde gelegentlich gefragt, warum ich ruhig bleibe. Ehrlich: ich kann auch anders, aber wem nützt das? Deshalb besonnen und diszipliniert verhalten und die Dinge nehmen, wie sie nun mal sind. Es fließt Wasser und Strom. Eine Hungersnot droht nicht wirklich – auch wenn mich beim ersten Besuch des Supermarktes meines Vertrauens nach freiwilliger zehntägiger Abstinenz fast der Schlag getroffen hätte. Ja, der Alltag ist stark verändert, auch anstrengend. Aber das ist keine wirkliche Freiheitsbeschränkung, sondern eine Chance, baldmöglichst gesund in Freiheit weiter zu leben.
Für mich sind verordnete Homeoffice-Zeiten auch gewöhnungsbedürftig, doch ich spare extrem viel Fahrzeit und habe in den letzten Tagen viel Liegengebliebenes erledigen können. Meine Langzeitrecherchen laufen weiter. Angesichts der aktuellen Entwicklungen würde ich Ausgangssperren sogar begrüßen. Anders scheint ein Teil der Bevölkerung den Ernst der Lage nicht zu begreifen. In einigen Bundesländern wurde journalistische Tätigkeit als systemrelevant anerkannt, darunter Sachsen und Berlin. Trotzdem: Wenn ich nicht zwingend raus muss, halte ich mich an das Gebot, zu Hause zu bleiben. Freiwillig. Ich weiß aus eigenem Erleben, wie es sich anfühlt, wenn das Gesundheitswesen am Limit ist und danke allen in systemrelevanten Bereichen Tätigen fürs Durchhalten!
Als Verfechterin des konstruktiven Journalismus habe ich mich in den letzten Tagen über viele tolle Ideen gefreut. Eine davon ist die Website Pandemic Footprint Index (PFI) v1.5, auf der man in wenigen Augenblicken seinen pandemischen Fußabdruck bezüglich Coronavirus SARS-CoV-2 ermitteln kann. Je niedriger der berechnete Wert, desto besser. Mit dem Ergebnis erhält man Handlungsempfehlungen fürs Sozialverhalten. Spenden kann man auch – für den Corona Nothilfefonds des DRK.
Mein PFI:
Screenhot
Wer sieht die Corona-Krise auch als Chance?
Was halte ich nun aktuell für dringende gesellschaftliche Herausforderungen in Deutschland? Mehr Sozialkompetenz und Gemeinschaftssinn, weniger Egoismus, keine Bereicherung an menschlichem Leid. #STAYHOME
Übrigens:
Aufmacherfoto: Dagmar Möbius
Aufsteller vor einem Dresdner Ärztehaus am 14. März 2020
Du sprichst mir aus der Seele! Darf ich das weiterleiten?
Ja gerne, danke!
Sehr schön geschrieben – Dresden verhängt 3 Wochen Ausgangssperre.
https://www.dresden.de/media/pdf/presseamt/Allgemeinverfuegung.pdf
Mit Beschränkungen aufgewachsen zu sein, ist im Leben hilfreich…
Aus gegebenem Anlass weise ich darauf hin, dass Verschwörungstheorien, zynische Panikmails und sonstige Dinge, die die Welt jetzt garantiert nicht braucht, hier keinen Platz finden. Jedem Möchtegern-Mediziner und Corona-Besserwissi empfehle ich, sich nach dieser Krise einen Beatmungsplatz in einer Intensivstation zeigen zu lassen. Es ist zu hoffen, dass dies genauso wirksam ist wie – erwiesenermaßen – ein kurzer Rundgang mit jugendlichen Komasäufern über eine Station mit Wachkoma-Patienten.
[…] schrieb an dieser Stelle bereits über meine Meinung zum Krisenbewältigungsverständnis vieler Ostdeutscher. Aber ich bin bei dieser Thematik auch Zeitzeugin – das öffnet mir in Ostdeutschland viele […]
[…] nach systematischen Unterschieden zwischen der krisenerfahrenen und krisenunerfahrenen Gruppe. Wie erleben die Menschen im Osten und Westen im Jahr 2021 die Corona-Krise, aber auch weitere Krisen wie die Klima- und Demokratiekrise?“, erläutert Projektleiterin Dr. […]