Verblasste Vergeblichkeit

In diesen Tagen häufen sich Ankündigungen für Termine, die den baldigen 30. Jahrestag der Deutschen Einheit würdigen. Ausstellungen, Bücher, Dokumentationen, Filme, (Online-)Feiern, Statistiken. Alles wichtig, alles richtig. Trotzdem vermisse ich etwas: Die Erinnerung an ein verblasstes Gefühl.

Drama versus Komödien

2012 war ein für mich in jeder Beziehung bewegtes Jahr. Nicht anders ist es zu erklären, dass ein Spielfilm völlig an mir vorbeirauschte. Ich hatte noch nicht einmal davon gehört. Doch kürzlich bekam ich einen Tipp und konnte Versäumtes nachholen. „Wir wollten aufs Meer“ von Toke Constantin Hebbeln (Regie und Drehbuch) und Ronny Schalk (Drehbuch) kam im September vor acht Jahren ins Kino. Auf der Jahreshitliste 2012 erreichte das Drama mit 26.279 Besuchern Platz 96 von 100. Zum Vergleich: Der Spitzenreiter des Jahres war die Komödie „Türkisch für Anfänger“ mit 2.390.245 Besuchern. Ein Jahr später hatten 52.632 Menschen „Wir wollten aufs Meer“ gesehen – Platz 84 von 100. Platz 1 besetzte im Jahr 2013 mit 5.622.273 Besuchern die Komödie „Fack ju Göthe“.

(Sozialisiertes?) Spektrum der Kritiken

Diese Zahlen muss man nicht kommentieren. Kritiker lobten „Wir wollten aufs Meer“ als ein „fesselndes, von großartigen Darstellern getragenes Stasi-Drama, das durch seine erzählerische Klarheit beeindruckt“, „… die Dimension einer griechischen Tragödie“, „ein bildprächtiges Epos“, sie monierten einen „merkwürdigen Hybrid“ oder sie vermissten „eine Ungezwungenheit in der Inszenierung eines schwierigen Kapitels deutscher Historie“.

Screenshot Programmzeitschrift 9/2020

Glücklicherweise habe ich Statements von anerkennender Sachlichkeit, allwissender Belehrung bis zum arroganten Verriss erst gelesen, nachdem ich den Streifen gesehen hatte. Ich gehe sogar soweit, über die Sozialisierung der Rezensenten zu wetten. Wer die Probe aufs Exempel machen möchte, kann sich durch die Programmzeitschriften wühlen. Dort entdeckt man in einer aktuellen Ausgabe, dass die 1982 spielende Handlung im „real existierenden Kommunismus“ verortet sei. Ich habe an anderer Stelle schon darauf hingewiesen: das in der DDR herrschende Gesellschaftssystem war Sozialismus, der Kommunismus allenfalls ein Fernziel.

Fiktion als Diskussionsstoff

Filmplakat Wild Bunch, DIF

Aber sei es drum. Allen, die dem übrigens 1978 in Itzehoe geborenen Regisseur überambitioniertes Agieren vorwarfen, sei gesagt: er hat wie Drehbuchautor Ronny Schalk seine Hausaufgaben mehr als gemacht! In fünf Jahren Recherche haben beide sehr gut zugehört! Vermutlich können nur Betroffene nachvollziehen, wie viel Reales in die fiktive Handlung geflossen ist. Das kann noch unter uns weilenden, in der Vergangenheit stehengebliebenen Ex-Funktionären, Staatsdienenden und DDR-Privilegierten nicht gefallen. Es ist leider keine Überspitzung, dass in der DDR Dokumente oder Briefe gefälscht und Menschen manipuliert wurden. Institutionalisierten Verrat muss man zeigen und man muss ihn genau so zeigen. Schon weil in Geschichtsbüchern nichts darüber zu lesen ist. Und auch in Archiven findet sich nicht alles, was geschehen ist. In den Herzen und Albträumen von Zeitzeug*innen schon.

Gefühlte Vergeblichkeiten – damals und heute

„Die einzige Konstante ist Vergeblichkeit.“ Dieses Zitat aus dem Film fasst das treibende Gefühl des Melodramas in einem Satz zusammen. Gesagt wird es von einer der beiden Hauptfiguren, beide übrigens Waisen (warum bleibt offen). Unangepassten waren Studien- und Berufswege verwehrt. Ob als Matrose, als Bauleiter*in oder als Journalist*in. Nebenstrang des Films: Beziehungen mit Vertragsarbeiter*innen waren unerwünscht. In anderen Worten: „Du kannst machen, was du willst, mit einer bestimmten Herkunft oder Einstellung kommst du nie dort an, wo du hinwillst.“ Für nicht wenige Heim- oder Adoptivkinder waren die Wege vorgezeichnet, auch wenn sie das mitunter erst Jahrzehnte später erkennen konnten. Viele Betroffene suchen noch heute nach ihren Wurzeln und den Gründen für „biografische Eigenartigkeiten“.

Sehnsuchtsort Meer_Gorch Fock in Stralsund

Ich kenne einige Menschen, die erst nach dem Mauerfall mit ihrer persönlichen Verwirklichung beginnen konnten. Beruflich, privat oder als Reisende. Manchen blieben nur wenige Jahre. Ihnen gedenke ich am 3. Oktober. Ich bin mehr als dankbar, dass das Gefühl der konstanten Vergeblichkeit aus Jugendtagen heute so nicht mehr abgerufen werden kann. Vergessen wir aber nicht, dass heute andere gefühlte Vergeblichkeiten existieren, die in Frage gestellt werden müssen.

„Wir wollten aufs Meer“ ist am 4. Oktober 2020, 2:15 Uhr, in der ARD zu sehen und/oder z.B. in der Megathek via Magenta abrufbar.

 

 

Fotos: Archiv Dagmar Möbius (2019)

Fährschiff in Sassnitz (Rügen)

Ein Gedanke zu „Verblasste Vergeblichkeit

  1. Vielen Dank, liebe Dagmar! Auch an mir ist dieser Film vorüber gezogen… Bis heute. Einen Grund mehr, ihn anzusehen, habe ich jetzt. Schon der Trailer ist starker Tobak. Er hat in mir eine Erinnerung geweckt… Ich kenne jemanden, der wollte auch aufs Meer hinaus, und es wurde ihm verwehrt. Solche Filme brauchen wir, um nicht zu vergessen, woher wir kamen und wo wir heute sind! Bewegte Grüße

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