Khuyen hat bestanden

Im September 2020 klingelte mein Telefon. Ob ich sofort als Dozentin einspringen könnte? Langeweile hatte ich nicht. Doch das Anliegen war dringend. Im Rahmen der Assistierten Ausbildung sollte ich eine kleine Gruppe künftiger Altenpfleger*innen auf ihre Examensprüfung vorbereiten. Nachdem ich mir angehört hatte, worum es konkret geht, sagte ich dem Bildungsträger von einem Tag zum anderen zu und verzichtete fortan auf freie Tage.

Vom Lehrkabinett zum Online-Unterricht

Die ersten Monate fand der Intensivförderunterricht in Präsenz im Pflegeheim statt. Mit allen vorgeschriebenen Corona-Hygieneschutzmaßnahmen. Ab Weihnachten 2020 war das nicht mehr möglich. Also E-Learning. Und noch etwas änderte sich. Ich würde nur noch eine Schülerin unterrichten. Die vietnamesische Krankenschwester kam 2016 im Rahmen eines Fachkräfteabkommens nach Deutschland. Ihre deutsche Anerkennung musste sie noch erreichen. Mehrere Prüfungsversuche waren zuvor gescheitert. Deshalb nenne ich sie hier nicht mit ihrem richtigen Namen. Die deutsche Sprache fiel Khuyen* schwer, sehr schwer. Dazu die medizinische Fachsprache mit einmal lateinischem, einmal griechischem Wortstamm. In der Praxis war sie anerkannt: fleißig, engagiert und liebevoll zu den Heimbewohner*innen. Eine zarte Person, bei der ich mich manchmal fragte, wie sie multimorbide, oft übergewichtige, Menschen aus dem oder ins Pflegebett transferierte.

Das Symbolfoto zeigt nicht meine Schülerin. Foto: Nac Thang/pixabay

Geht gut – wirklich?

Fragte ich, wie es ihr geht, lächelte sie stets und sagte: „Mir geht’s gut.“ Ich merkte, dass das oft nicht stimmte. Heimweh, die Arbeitsbelastung und der anspruchsvolle Prüfungsstoff machten ihr zu schaffen. Sie klagte nie. Von meiner Vorgängerin in der Lernmaßnahme erfuhr ich, dass die Schülerin ab und zu den Unterricht „geschwänzt“ habe. „Man weiß nie, ob sie erscheint“, hieß es. Eine ordentliche Herausforderung! In der kleinen Lerngruppe sprach sie anfangs kaum und nur, wenn sie gefragt wurde. Zwei deutsche Kolleginnen und ein syrischer Kollege waren in einem niedrigeren Lehrjahr, hatten einen anderen Wissensstand und konnten auf familiäre Unterstützung zurückgreifen. Zimperlich mit der vietnamesischen Kollegin waren sie nicht. Ungeduldig, wenn sie die richtigen Worte nicht fand, undeutlich sprach oder fachlich „rumeierte“.

Lernluxus und Zitterpartie

Unterschiedliche Dienstpläne führten dazu, dass ich Khuyen* an mehreren Tagen allein unterrichtete. Sie erschien pünktlich und war vorbereitet. Plötzlich taute sie auf, sie redete und ich staunte, dass sie sprachlich zwar ab und zu holperte, aber fachlich alles Notwendige wusste. War sie unsicher, fragte sie. Im Endspurt zur nochmaligen Examensprüfung stimmte der Bildungsträger dem Einzelunterricht zu. Was für ein Luxus! Dafür weniger Stunden. Und für mich keineswegs weniger anspruchsvoll. Auch ich musste Lernstoff wiederholen. Die letzten Wochen glichen einer Zitterpartie: nach einer gut bestandenen praktischen Vorprüfung sorgte eine dreitägige schriftliche Prüfung für schlaflose Nächte und Tränen bei meiner Schülerin. Zweimal wartete ich zum Online-Unterricht vergeblich auf sie. Sie fieberte dem Zwischenergebnis entgegen, das einfach nicht kommen wollte. Die Kraft zum Lernen fehlte. Hier war Motivationstraining und psychologisches Geschick gefragt. Wir holten die Termine nach.

Endlich bestanden!

Heute erreichte mich ihre überglückliche Nachricht: Bestanden! Khuyen* darf sich nach der letzten Prüfung examinierte Altenpflegerin nennen. Das ist nicht nur ein Erfolg für das Pflegeheim, in dem sie tätig ist, und für die beteiligten Bildungseinrichtungen und Behörden, sondern zuallererst für die 27-Jährige. Ihre Familie kann nun stolz auf sie sein und sie auf sich.

Große Freude über die endlich bestandene Prüfung. Symbolfoto: Nghi Nguyen Tuyen / pixabay

Khuyen* wird viele Jahre deutsche Menschen pflegen und nur selten in ihre Heimat fliegen können. Mit dem anerkannten Examen wird sie künftig wie eine deutsche Fachkraft bezahlt werden. Ich freue mich mit ihr und bin dankbar für die gemeinsame Lernerfahrung. Dass sie in Deutschland und im Beruf langfristig glücklich wird, wünsche ich ihr von Herzen.

Über Schonhaltung und Nichtberichte

Ich lernte seit Herbst 2020 viel über kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede. Über den herausfordernden Alltag in Pflegeheimen und Bildungsinstitutionen. Über deutsche Wörter, die nicht im Duden stehen und die keine Übersetzungs-App kennt. „Schonhaltung“ zum Beispiel. Über Hürden in der Ausbildung. Über all das wird in den Medien selten berichtet. Sicherlich auch, weil der Zugang fehlt. Und ja, dass eine Journalistin plötzlich im Heim unterrichtet, findet nicht jede*r prickelnd. Doch ich war nicht als investigative Reporterin dort. Ich bin vor über 15 Jahren aus dem Pflegedienst ausgestiegen, mit meinem Erstberuf aber immer verbunden geblieben. Dieser Einsatz war mir eine Herzenssache.

Lukrativ versus sinnvoll

Lohnt sich das? Ich wurde in den letzten Monaten öfter gefragt, ob der Aufwand Assistierter Ausbildung angemessen ist. Ich bin weder Statistikerin noch Soziologin oder Wirtschaftsweise. Ich finde: Jede motivierte Fachkraft, die dem deutschen Gesundheitssystem erhalten bleibt, ist wertvoll. Es mangelt nicht an Pflegeheimplätzen oder Klinikbetten, sondern an Menschen, die pflegen wollen – und können. Dass ich jetzt alle meine Erfahrungen einbringen darf, um das Gesundheitswesen im Kleinen ein wenig besser zu machen, lohnt sich aus Dozentensicht – rein ökonomisch gesehen – kaum. Aber es ist menschlich bereichernd und sinnvoll. Deshalb werde ich wieder einspringen, wenn es brennt.

*Khuyen („die Beratene“) heißt in Wirklichkeit anders. Zu ihrem Schutz nutze ich einen anderen vietnamesischen Vornamen und verzichte bewusst auf identitätshinweisende Informationen.

Die Assistierte Ausbildung (AsA) wurde 2015 als neues Förderinstrument
für lernbeeinträchtigte und benachteiligte Jugendliche eingeführt. 
Sie erhalten durch die Maßnahme die Möglichkeit, vorhandene Defizite 
gezielt abzubauen, damit eine Ausbildung durch diese spezielle Förderung
gelingen kann. 
(Flyer der Bundesagentur für Arbeit)

Die Zahl der Teilnehmenden einer AsA-Maßnahme ist rückläufig. Grafik: DM

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Jahr 2019 begannen 71.300 Menschen eine Ausbildung in einem 
Pflegeberuf. Das waren 8,2 % beziehungsweise 5.400 mehr als ein Jahr 
zuvor. Rund 44.900 Menschen schlossen 2019 ihre Ausbildung in einem 
Pflegeberuf erfolgreich ab.
Q: PI des Statistischen Bundesamtes (DESTATIS) Nr. N 070 vom 28.10.2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert