„Corona nervt.“ Ausnahmezustand seit knapp zwei Jahren. Ich versuche prinzipiell das Beste aus allen Lebenslagen zu machen. Auch jetzt. Aber es gibt eine Besonderheit: Einige Menschen driften ab. Manche ziehen sich auf esoterische Pfade zurück, andere schwingen radikale Reden. „Corona ist tabu“, höre ich aus vielen Gruppen oder Familien. Das Nichtreden blendet Konflikte aus, aber es löst sie nicht.
Wie man solche Situationen bewerten und einordnen kann, habe ich vor zwei Jahren auf der Tagung der Sächsischen Psychotherapeuten gehört. Es hilft mir, passend zu reagieren, ohne zu propagieren. Weil das Thema zeitlos ist, veröffentliche ich hier einen Auszug aus meinem im Herbst 2019 veröffentlichten Artikel.
Ernst-Dieter Lantermann, emeritierter Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie am Institut für Psychologie der Universität Kassel, hat viel zu Hintergründen der Radikalisierung geforscht. Dabei beschäftigte ihn die Kernfrage, wodurch sich Menschen verunsichert fühlen und wie sie mit Unsicherheit umgehen. Am Beispiel einer Studie mit Landwirten erklärte er: »Werteorientierte Menschen, die nicht mehr wissen, wo es langgeht, zeigen erschreckende Verhaltensweisen, sie werfen ihre Prinzipien über Bord.« Das betreffe nicht nur politische Ansichten, sondern ebenso militante Impfgegner, Tierschützer, Abtreibungsgegner oder Veganer. »Ich habe gelernt: deren Hasstiraden richten sich vor allem gegen sie selbst. Das ist nichts Privates. Jede Folge des Fanatismus, des Radikalismus wirkt sich auf die Gesellschaft aus!«, betonte er. Bei Fremdenhass hat Lantermann vier Gruppen identifiziert und beschrieben. Er nennt sie »Verhärtet-Selbstgerechte«, »Beleidigte«, »Verbitterte« und die »Grollende Elite«. Die totalitäre Obsession diene der Rückgewinnung von Sicherheit. Fanatiker haben ein geschlossenes Glaubenssystem, sie denken in Schwarz-Weiß, reduzieren Komplexes, um es überschaubar zu halten und pflegen eine überwertige Idee. Sie kommunizieren, als sei jedes Gegenüber ein Feind. Kurz: »Moralische Argumente sind bei kompromissloser Selbstgerechtigkeit sinnlos.« Nur im Zustand der Dauererregung seien Fanatiker mit sich im Reinen und empfinden ihr Leben als vital und spannend. Doch die Forschung kennt auch Ressourcen, die vor Fanatismus schützen. Sichere Bindungserfahrungen – ein Urvertrauen –, die Fähigkeit, alles mit einer Bedeutung zu belegen sowie Selbstvertrauen, Handlungsfähigkeit und Neugier. Dazu könnten Psychotherapeuten viel tun.
Ich werde regelmäßig gefragt, was ich rate. Ich bin weder Therapeutin, noch Wissenschaftlerin oder Politikerin. Das Bewerten sollte man Fachleuten überlassen. Als Journalistin springe ich nicht auf jeden Hype und lasse mich nicht vereinnahmen. Es zählen Fakten. Als Mensch lenke ich den Blick möglichst nicht auf einen (vermeintlichen) Mangel. Meine Devise: Annehmen, was ist. Nöte erkennen und ansprechen. Hilfe anbieten. Im Kleinen funktioniert das.
Zum Weiterlesen:
Ernst-Dieter Lantermann. (2016)
Die radikalisierte Gesellschaft: Von der Logik des Fanatismus
Aufmacherfoto: pixabay_LeFox