Trillerpfeifen für die ambulante Regelversorgung

„Die Politik wacht erst auf, wenn die letzte Praxis zu ist.“ Hoffentlich nicht. Mehr als 1.000 Menschen protestierten gestern vor dem Brandenburger Tor. Aufgerufen hatte der Verband medizinischer Fachberufe. Um es gleich zu sagen: Ich bin aufgrund meines Erstberufes bei diesem Thema nicht neutral. In der Corona-Pandemie berichtete ich über „MFA am Limit“ und kontinuierlich schreibe ich (auch) über die ambulante Gesundheitsversorgung. Inzwischen heißt es flächendeckend: „Praxen am Limit“.

„Demonstrieren ist nicht der Stil sozialer Berufe“, sagt Emmi Zeulner, Mitglied des Bundestages (CDU/CSU) und Mitglied Gesundheitsausschusses. „Aber wenn es hart auf hart kommt, müssen wir es tun.“ Sie hatte bereits im Dezember 2021 am gleichen Ort den Protest der MFA unterstützt. Fünf vor Zwölf ist längst vorbei in der ambulanten Gesundheitsversorgung. Das merken alle, deren Ärzte in den Ruhestand gehen, wer zahnärztliche und/oder prothetische Behandlung benötigt, keinen Physiotherapietermin bekommt oder auf fachärztliche Konsultationen und Psychotherapien monatelang warten muss. Und so herrschte bereits vor Beginn der Protestaktion „Rote Karte für die Gesundheitspolitik“ 12 Uhr Andrang vor der Bühne am Brandenburger Tor – hier (links) ein Blick von der Terrasse der Akademie der Künste am Pariser Platz.

 

Es wurde ordentlich Krach gemacht: gepfiffen, getrommelt, gerufen, gerasselt und geklatscht. Der Protest der MFA und anderer Gesundheitsberufe ist endlich laut. Und endlich wird er nicht nur von der Ärzteschaft unterstützt, sondern auch von Patient*innen, Gesundheitspolitiker*innen, die wissen, was an der Basis los ist, sowie von diversen Organisationen. Für das Pflegepersonal wurde in den letzten Jahren viel getan: Sie erhalten eine bessere Vergütung, die Ausbildung wurde reformiert und die Karrierechancen sind höher. Corona-Bonus und Klatschen vom Balkon selbstverständlich.

Raus aus dem Niedriglohnbereich

JA zur Stärkung der Gesundheitsberufe

Für ambulant tätiges Gesundheitspersonal ist all das noch nicht einmal in Reichweite. Die Gehälter sind unterirdisch, wie eine Teilnehmende der Protestaktion zu Protokoll gab, die Bürokratie ist überbordend und immer mehr Leistungen der ambulanten Regelversorgung werden budgetiert oder gestrichen. Den Frust der Patienten bekommen zuerst die Medizinischen Fachangestellten (MFA) und Zahnmedizinischen Fachangestellten (ZFA) ab. Ein Großteil von ihnen arbeitet im Niedriglohnbereich. Der Verband medizinischer Fachberufe fordert deshalb unter anderem eine Anhebung der Gehälter um mindestens 30 Prozent. Es gehe keineswegs um ein Ausspielen der unterschiedlichen Gesundheitsberufe, betont die Präsidentin des VmF, Hannelore König. „Alle und nicht nur ausgesuchte Gesundheitsberufe müssen gestärkt werden“, fordert Stephanie Schreiber, Medizinische Fachangestellte und 2. Vorsitzende im geschäftsführenden Vorstand vom Verband medizinischer Fachberufe.

Mehr Härtefälle im Osten

Zahntechnikerin Anja Löcken aus Dresden zeigt der Gesundheitspolitik die Rote Karte.

Dass sich auch die Beschäftigten der Zahnmedizin und die Zahntechniker*innen ungesehen von der Gesundheitspolitik fühlen, ist weniger bekannt. Zahntechnikerin Anja Löcken vom Dentallabor Löcken ist aus Dresden zur Protestaktion gefahren. Zum ersten Mal. „Ich habe mich gestern Abend spontan dazu entschieden, weil es uns auch betrifft“, sagt sie. „Wir müssen sagen, dass es uns nicht gut geht. Von Reparaturen können wir nicht leben.“ Viele Härtefälle im Osten, viel mehr Regelversorgung als in anderen Regionen Deutschlands, prägen den Berufsalltag. „Die Preise sind diktiert, obwohl wir ein Handwerksbetrieb sind“, erklärt sie und ist enttäuscht, dass die Politik die Probleme bisher aussitze.

„Telematik-Struktur ist eine Zumutung“

Zahnarzt Dr. Thorsten Radam und Hausarzt Dr. Steffen Grüner engagieren sich in der IG MED für eine bessere ambulante Gesundheitsversorgung.

Hausarzt Dr. Steffen Grüner ist aus Osnabrück angereist, Zahnarzt Dr. Thorsten Radam aus Meiningen. „Wir sind für die IG MED hier. Wir vertreten mehrere Berufsgruppen, auch MFA“, sagt Grüner. Ihn regt vor allem die Telematik-Struktur auf. „Die 400 Millionen Euro wären in der ambulanten Versorgung besser aufgehoben“, findet er.

„Lauterbach schafft Lücken“

„Den reichen Doktor gibt es nicht mehr“

Nicht alle Teilnehmenden wollen ihren Namen öffentlich lesen oder fotografiert werden. Eine 61-Jährige MFA arbeitet in Berlin-Prenzlauer Berg zu zweit mit ihrer Chefin, einer Allgemeinmedizinerin. Sie ist allein ans Brandenburger Tor gekommen, es ist ihre zweite Protestaktion. Ihr Beruf sei toll, sie wolle bis zur Rente durchhalten. Aber: „So viele Leistungen werden nicht honoriert, Termine sind schwer zu bekommen, es läuft alles nicht rund“, sagt sie und hofft, so bezahlt zu werden, wie die Medizin es verdient. „Den reichen Doktor gibt s nicht mehr“, ist die seit 31 Jahren im Beruf Tätige sicher.

„Wenn‘s brennt, muss immer die MFA ran“, sagt Dr. med. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. „Ohne Euch würde es unsere Praxen nicht mehr geben.“ Das ist keine Rhetorik. Im Jahr 2022 dachten 46 Prozent der MFA und 35 Prozent der ZFA mehrmals monatlich daran, aus dem Beruf auszusteigen, wie aus einer aktuellen Umfrage des VmF hervorgeht. Beier fordert eine Strukturpauschale, die die Versorgungsqualität in den Praxen abbildet. Das könne auch Aufstiegsmöglichkeiten und die Akademisierung fördern.

Bundesgesundheitsminister Lauterbach und Bundeskanzler Scholz als Horrorvision?

Dr. Berndt Birkner, Präsident des Netzwerks gegen Darmkrebs, bezeichnet die MFAs „bewusst als unsere Kolleginnen“. Er plädiert für Versorgerteams und gemeinsame Auftritte als Teams. Es gehe nicht nur um (mehr) Geld, es gehe um eine leistungsgerechte Bezahlung und mehr Vorsorge. Es müsse eine Vorhaltepauschale für Praxen analog der in Kliniken geben.

Das Herz unserer Praxen

„Sie sind das Herz unserer Praxen“, sprach Martin Hendges, Vorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, zu den Anwesenden. Er plädierte vor allem für die Aufhebung der Budgetierung der Parodontitistherapie. 30 Millionen Patienten sind davon bundesweit betroffen. „Die Folgen trägt die Politik“, warnte er und kündigte an, dass diese Veranstaltung keine Eintagsfliege sei. Auch der Präsident der Bundeszahnärztekammer, Professor Christoph Benz, kündigte einen heißen Herbst an, wenn die Forderungen nicht erfüllt würden. Eine Teilnehmerin der Protestaktion stellt sich als Patientin vor. „Ich begleite unseren Zahnarzt“, sagt sie und: „Es muss etwas passieren.“

Sind wütend und zeigen Zähne.

„Wir sind so wütend, wir haben sogar ein Plakat gebastelt!“ Das Praxispersonal ist kampfentschlossen und will „Zähne zeigen!“ Auch das Team einer Hals-Nasen-Ohren-Praxis mit ambulantem OP aus Berlin-Marzahn hat eigene Transparente entworfen. „Ärzte retten Leben. MFA retten Ärzte“, steht darauf. Auch: „Leistungen müssen endlich honoriert werden.“ Immer wieder bitten Teilnehmende und Passant*innen um ein Foto.

Das Team einer HNO-Praxis aus Berlin-Marzahn wurde mit ihren selbst hergestellten Plakaten viel fotografiert.

Dem ambulanten Gesundheitspersonal ist es ernst und das ist gut so.

Fotos: Dagmar Möbius

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