Leckere Vielfalt

Heute wird das 33. Jubiläum der Wiedervereinigung Deutschlands begangen. Am 3. Oktober 1990 war ich 24 Jahre alt. 24:33 – Ich verfüge über mehr Erfahrungen in Gesamtdeutschland als in der DDR. Zudem über mehr bewusstere Erfahrungen. Die aktuellen Ost-West-Debatten nerven mich. Warum? Sie erscheinen mir oft zu destruktiv. Ein aktuelles Interview hat eine kluge Idee.

„Neugierskarle“

Ich habe den für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten  Bestseller „Gittersee“ noch nicht gelesen, dafür fast alle Medienberichte darüber – und eine Leseprobe der 2. Auflage. Dass ein Roman Fiktion ist, erlaubt ihm, Dinge zu schildern, die keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit haben. Sonst hätte die Autorin Charlotte Gneuß eine Dokumentation verfasst. Sie kann zuhören, sie kann schreiben, sie macht neugierig. „Neugierskarle“ (Seite 14) ist eine Redensart, die ich von meiner zeitlebens in Sachsen lebenden Oma kenne. Sie sprach: „Neugierds‘ Karle“. Das Beispiel verdeutlicht: Jede Generation nutzt bestimmte Floskeln. Von Dialekten und Mundart ganz zu schweigen. Das ist Vielfalt.

Lecker Zündstoff

Dass „Ossis“ einmal zu „Besserwissis“ mutieren, finde ich fürchterlich. Für alle nicht Eingeweihten: Der Dresdner Schriftsteller Ingo Schulze sorgte mit seiner Mängelliste am Roman für reichlich Zündstoff. Damals wie heute gilt: Manche Leute nutzen ausgewählte Worte, andere Leute vermeiden bestimmtes Vokabular. „Lecker“ soll im Osten nicht benutzt worden sein? Oh doch, sage ich. Ohne Ambitionen, mich über solche Nichtigkeiten zu streiten. Wer käme auf die Idee, sich über Schrippen, Semmeln, Brötchen oder Wecken aufzuregen? Vielfalt bereichert die Gesellschaft. Nicht nur beim Essen.

Ostidentität = Benachteiligungsgefühl?

Vor einer Woche erschien der Bericht der Bundesregierung 2023 „Zum Stand der Deutschen Einheit“. Schwerpunktthema „Lebenswelten Stadt und Land“. 176 Seiten dick. Ohne Anspruch auf sozialwissenschaftliches Forschungsdesign. Und eine Diskussion anstoßend, ‚was „Angleichung“ und Gleichwertigkeit 33 Jahre nach der Wiedervereinigung und insbesondere vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Lebensbedingungen in Stadt und Land bedeuten‘. Einleitend wird festgestellt, dass strukturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland abgebaut werden konnten. „Dennoch bewerten viele Ost- und Westdeutsche die Lage des Landes unterschiedlich. […] Die Folgen der Wiedervereinigung beschäftigen viele Menschen noch immer in besonderer Weise.“

Das ist eine Herausforderung. Auch für mich. Und keine Aufgabe, die mit Schwarz-Weiß-Denken bewältigt werden kann. Wenn ich mich (bzw. mein Projekt Sprechstundenschwester) als ostdeutsch kategorisiere, meine ich in erster Linie die geografische Verortung, aber auch die Sozialisierung in der DDR. Einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap fühlen sich aktuell rund 40 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern noch als Ostdeutsche. Zitat: „Die starke Ostidentität wurzelt offenbar nicht zuletzt in einem nach wie vor ausgeprägte Benachteiligungsgefühl. So geben 43 Prozent der Ostdeutschen an, sich als Bürger:innen zweiter Klasse zu fühlen.“

Zweite Klasse

Ob es sich nur um ein „Benachteiligungsgefühl“ oder um echte Tatsachen handelt, ist klar im Bericht der Bundesregierung 2023 „Zum Stand der Deutschen Einheit“ nachzulesen. Neben zahlreichen Verbesserungen, die naturgemäß schnell als normal gelten, stehen niedrigere Löhne, höhere Arbeitslosigkeit, weniger Studierende nach der Wende, mit Abstand weniger ostdeutsche Führungskräfte. Im Sommer 2024 will die Bundesregierung den ersten Gleichwertigkeitsbericht vorlegen. Er soll Entwicklungen und bisherige Maßnahmen des Bundes in Bezug auf gleichwertige Lebensverhältnisse darstellen und Handlungsoptionen ableiten.

Mein Wunsch: Berufliche Anerkennungen, die bisher versäumt, ignoriert oder von der Politik ausgesessen wurden, sollen erfolgen und wenn nötig Rehabilitierungen eingeleitet werden. Alle bisher amtierenden Ostbeauftragten haben hier keine nennenswerten Aktionen für notwendig erachtet.

Weg vom Nabel der Welt

So ist es kein Wunder, dass der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ein solches Amt für überflüssig hält. In einem Interview mit der Tagesschau erläuterte er, warum. Anders als die Überschrift „Ein Ostbeauftragter ist nicht mehr zeitgemäß“ vermutet lässt, hat er einen konstruktiven Vorschlag: „Was wir brauchen, ist ein Beauftragter für gleichwertige Lebensverhältnisse, so wie das Grundgesetz sie vorsieht.“

Das Desinteresse des Westens am Osten müsse man als gewisse Normalität verstehen, sagt Kowalczuk. Ich stimme ihm zu. Es ist so. Aber nicht prinzipiell, so ist zumindest meine Erfahrung. Es lohnt sich, über Ungleichheiten zu sprechen, Besonderheiten wertzuschätzen, Interesse zu wecken und für Verbesserungen zu kämpfen. Das gilt für das Ruhrgebiet oder Regionen des Saarlands genauso wie für die Oberlausitz oder Mecklenburg-Vorpommern. Ostdeutschland ist besonders, für alle, die hier geboren sind und hier leben. Vielfalt erfordert Toleranz. Nicht nur für den Osten, sondern auch im Osten für den Rest der Welt.

 

Aufmacherfoto: Dagmar Möbius

Bier-Vielfalt, gesehen im DDR-Museum Dabel (Mecklenburg-Vorpommern). Die private Sammlung hat sich auf in der DDR produzierte Lebensmittel spezialisiert, zeigt jedoch auch andere Alltagsgegenstände. Nur vereinzelt erfahren Besuchende an den Regalen historische Informationen über die Exponate.

 

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