Eingeweihte wissen: Ich bin nicht nur Journalistin. Lange bevor Psychotraumatologie in Weiterbildungen behandelt wurde, absolvierte ich eine Ausbildung zur Psychologischen Fachberaterin für Krisenintervention und Notfallnachsorge. Damit darf ich psychologische 1. Hilfe leisten. Dies passiert gelegentlich, ehrenamtlich. Öfter schreibe ich über psychotraumatologische Zusammenhänge, weil viel mehr Wissen darüber unter die Menschen muss. Ohne Vernetzung funktioniert das nicht.
Bedarf höher als Angebote
Der Bedarf an niederschwelligen Hilfsangeboten und qualifizierten Behandlungen für Traumatisierte ist weit höher als die bestehenden Möglichkeiten. Vieles, zu vieles, wird auf dem Gebiet ehrenamtlich gestemmt. Engagierte wollen die Situation bessern – auch im Land Brandenburg. Anke Culemann ist eine dieser Vorreiterinnen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschäftigt sie sich mit dem Thema Trauma, hat zahlreiche Weiterbildungen absolviert. Schon vor 20 Jahren baute die Diplom-Psychologin die erste Online-Beratung auf – ein Bundesmodellprojekt. Stets stellte sie fest: Der Landkreis Oberhavel im Berliner Speckgürtel, in dem sie in einer Familien-, Paar- und Erziehungsberatung arbeitet, ist zwar wirtschaftsstark, in puncto Betreuung traumatisierter Menschen aber absolut unterversorgt. „Bei 85 Prozent der von uns begleiteten Familien ist Gewalt oder Missbrauch ein Thema. Gesagt wird das nicht immer sofort“, berichtet sie. „Eltern kommen zur Beratung, weil sich Kinder in der Schule nicht konzentrieren können oder auffällig im sozialen Verhalten sind.“ Ein Trauma zu erkennen, kann viel Leid ersparen und langwierige Folgestörungen verhindern.
Was ein Trauma ist und welche Folgen es hat
Psychotraumata werden je nach Autorenschaft verschieden definiert. Die meines Erachtens für Laien verständlichste Erklärung lehnt sich an den amerikanischen Psychologen Dr. Peter Levine an. Sinngemäß: Passiert ein schreckliches Ereignis zu plötzlich, zu schnell und zu massiv, können die Bewältigungsmechanismen des Menschen erheblich überfordert werden. Die Hauptsymptome: Das Erlebnis oder die Erlebnisse werden permanent wiedererlebt, Situationen vermieden und Betroffene sind übererregbar. Bei etwa einem Drittel der Fälle werden die Beschwerden chronisch. Anke Culemann kann die komplexen Abläufe im Gehirn erstaunlich einfach erklären. Sie spricht dann von Lernfenster, Alarmspeicher und Bibliothek im Gehirn, lässt Angsthasen lebhaft agieren oder ohnmächtig werden. So spricht sie auch mit Familien, für die Unverständliches nachvollziehbar wird. Denn ohne Verständnis für die Problematik gibt es keine Bereitschaft zu Veränderungen und/oder Therapien. Sie erklärt: „Wer ein Trauma nicht realisiert, muss es immer wieder neu inszenieren.“
Was man tun kann
- Wissen über psychologische Vorgänge vermitteln
- Ressourcen finden und erfragen
- Stabilisierungsübungen im Hier und Jetzt
- Sicherheit geben
- Hilflosigkeit verringern, Transparenz schaffen
- Kontrolle und Orientierung erhöhen
- Selbstregulierung unterstützen
Zwischen Bürokratie und Frust
Schon 2016 wollte Anke Culemann alle Akteur*innen der Region vernetzen. Mehrere Projektanträge wurden abgelehnt. Sich gemeinsam für Prävention, Aufklärung und die Gründung einer Traumaambulanz einzusetzen, hatte sie sich nicht so schwierig vorgestellt. Der Plan musste auf Eis gelegt werden. Doch die bereits kooperierenden Partner*innen standen weiterhin lose im Kontakt. Vorträge wurden gehalten. „Die Corona-Pandemie hat die Idee wiederbelebt“, sagt die Psychologin. Aktuelle statistische Zahlen zu Gewalt und die Zunahme psychologischer Behandlungen von Kindern und Jugendlichen schockierten sie. Ihre Vision: „Wir müssen so eine Art Traumagemeinde werden, in der alle wissen, was ein Trauma ist und was zu tun ist.“
Regionales Traumanetzwerk gegründet
Im Juli 2021 wurde das Traumanetzwerk Oberhavel gegründet. „Wir fangen erstmal klein an“, so der Konsens. Denn weiterhin wird die Arbeit ehrenamtlich geleistet. Eine Homepage markierte den Start. Darüber meldeten sich schon mehrere Hilfesuchende. Zur Auftaktveranstaltung des neuen Netzwerkes in der Klosterscheune Zehdenick am 22. September 2021 kamen 50 Personen aus der Region, die sich bereits für die Thematik engagieren. Das Interesse war weitaus größer, doch die geltenden Corona-Beschränkungen erlaubten keinen größeren Rahmen.
Warum Vernetzen und wie geht es weiter?
Ist eine Person traumatisiert, betrifft das die ganze Familie oder das gesamte Umfeld. Diesen Mobile-Effekt zu unterbrechen, verbessert die Situation vieler Menschen. Um Betroffenen optimal helfen zu können, muss spezifisches Wissen über die Thematik in vielen Berufsgruppen vorhanden sein. Hierfür möchte sich das Traumanetzwerk Oberhavel künftig in der Region intensiver engagieren. Derzeit hat der Zusammenschluss noch keinen rechtlichen Rahmen. Ob Sponsoren gesucht, ein Trägerverein gegründet und wie die Arbeit finanziert werden soll, wird noch diskutiert.
Schon jetzt sind auf der Online-Präsenz Kooperationspartner verlinkt, werden Veranstaltungen empfohlen und Informationen gegeben. Beim ersten offiziellen Treffen gingen zahlreiche konkrete Ideen ein. Ergänzende Impulse sowie weitere Vernetzungswillige sind willkommen. Für viele Teilnehmende war trotz allen Engagements neu, dass es im sich von der Berliner Stadtgrenze bis an die Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern hinziehenden Landkreis zwei neue Traumaambulanzen gibt: seit Mai für Erwachsene in Hennigsdorf und seit Juli für Kinder und Jugendliche in Birkenwerder. Diese werden seit Januar 2021 vom Land Brandenburg finanziert und sind als Soforthilfe für Gewaltopfer gedacht. „Dranbleiben!“, fasst Anke Culemann die Mission des neu gegründeten Traumanetzwerkes zusammen.
Fotos: Dagmar Möbius
Screenshots Aufmacher und Netzwerk: Traumanetzwerk Oberhavel
[…] gleichauf belegt „Dranbleiben an der Traumagemeinde“ Platz […]