Der Drohsatz: „Dann gebe ich es an die Presse“, wird Vielen bekannt vorkommen, die mit Menschen arbeiten. Regelmäßig erreichen mich Hilferufe verzweifelter Personen. Meistens per E-Mail, gelegentlich postalisch oder telefonisch. Aber gehören Angelegenheiten des höchstpersönlichen Lebensbereiches zwingend in die Öffentlichkeit?
Es sind immer komplexe Fälle. Am häufigsten geht es um den Vorwurf der Behördenwillkür, gefolgt von Verdacht auf Behandlungsfehler und menschlichem Fehlverhalten gegenüber sozial Schwächeren. Diese Woche war es wieder so weit: Eine E-Mail, mit offenem Verteiler an x Kontakte aus Gesundheitswesen, Politik und Medien bundesweit, schilderte eine offenbar schief gelaufene medizinische Behandlung. Keine alltägliche Diagnose, keine Routine-Operation. Zahlreiche beteiligte Ärzte wurden namentlich genannt. Immerhin enthielten die mitgesandten Fotos eine Triggerwarnung. Die absendende Person war unübersehbar verzweifelt. Kann mir solche Post als Journalistin egal sein?
Ethischer Kompass
In der Medienarbeit gelten die vom Deutschen Presserat empfohlenen Richtlinien für die publizistische Arbeit. Der Pressekodex ist der ethische Kompass für seriösen Journalismus. Die meisten Medienunternehmen in Deutschland fühlen sich an die in 16 Ziffern geregelten Grundsätze gebunden. Ich selbstverständlich auch. Was bedeutet das im aktuellen Fall und warum?
„Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ (Ziffer 1 Pressekodex)
Ob die geschilderte Situation wahr ist, kann ich spontan nicht beurteilen. Mir liegt nur die Sicht einer Seite vor.
„Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.“ (Ziffer 2 Pressekodex)
Existiert die Person tatsächlich? Das wäre die erste zu klärende Frage. Um den Wahrheitsgehalt aller beschriebenen Fakten zu prüfen, müssten ergänzende und echte (keine digitalen) Dokumente gesichtet und Statements der Involvierten eingeholt werden. Würde ich den Fall wie beschrieben veröffentlichen, wäre weder die Menschenwürde der betroffenen Person noch die der „Beschuldigten“ gewahrt.
Schutz der Persönlichkeit
„Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.“ (Ziffer 8 Pressekodex)
Den gebotenen Schutz der Persönlichkeit hat die absendende Person mit ihrer Information an einen großen Verteiler aus der Hand gegeben. Sie hat sich selbstbestimmt für den Gang in die Öffentlichkeit entschieden, das im Übrigen bereits vorher durch im Internet auffindbare Social-Media-Kommentare.
Es gibt einen Haken: Gemäß der Richtlinie 8.1 Kriminalberichterstattung hat die Öffentlichkeit zwar ein berechtigtes Interesse, über Straftaten (vor allem über außergewöhnlich schwere), Ermittlungs- und Gerichtsverfahren informiert zu werden. Ob hier der Verdacht auf eine Straftat besteht, kann von mir jedoch nicht beurteilt werden. Insofern gilt der Grundsatz der Unschuldsvermutung und es werden weder Namen noch Fotos veröffentlicht. (Ziffer 13 Pressekodex) Ebenfalls zu bedenken ist die Richtlinie 8.6: „Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden gehören zur Privatsphäre.“ Auch wenn die betroffene Person offenbar selbst eine Veröffentlichung wünscht, würde ich die aktuell bekannten Schilderungen nicht medial verbreiten. Unter anderem deshalb:
„Es widerspricht journalistischer Ethik, mit unangemessenen Darstellungen in Wort und Bild Menschen in ihrer Ehre zu verletzen.“ (Ziffer 9 Pressekodex)
Insbesondere für die Medizinberichterstattung gilt:
„Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. […]“ (Ziffer 14 Pressekodex)
Einzelfall oder relevantes Problem?
Auch wenn es sich um ein sogenanntes Nischenproblem handelt, das nur relativ wenige Menschen beträfe, kann der Sachverhalt für die breite Öffentlichkeit relevant sein. Beispielsweise dann, wenn Behandlungsfehler vertuscht wurden, wenn Therapien aus wirtschaftlichen Interessen durchgeführt oder unterlassen wurden, wenn systematisch Patient*innen geschädigt worden wären oder wenn gar Vorsatz vorliegen würde.
Sachebene vor Hysterie
Es ist denkbar, dass ein wie hier logischerweise nicht näher ausgeführter Fall in der Boulevardpresse schnell aufgegriffen wird. Ob Betroffenen damit geholfen wird, bezweifle ich. Sie könnten zusätzlich zu ihrem subjektiven oder objektiven Leidensdruck diskriminiert und dauerhaft geschädigt werden. Sollten tatsächlich ungesunde oder kriminelle Strukturen vorliegen, würden diese von einer medialen Berichterstattung allein nicht beseitigt. Welche Herangehensweise angezeigt ist, lässt sich nicht pauschal sagen.
Fachexpertise vor Ignoranz
Ich gehe davon aus, dass hinter allen solchen Kontaktaufnahmen große Not steht. Sie gänzlich zu ignorieren, verbietet sich schon aus menschlicher Sicht, wenn man wie ich aus einem Gesundheitsfachberuf kommt. Andererseits kann ich keine Hoffnung schüren, wenn ich die falsche Adressatin bin. Viele Probleme sind in erster Linie in direkter Kommunikation zu lösen. Insofern das – wie hier – gescheitert zu sein scheint, bleiben die Suche nach fachlich kompetenten Expert*innen, Hilfsorganisationen oder notfalls juristische Mittel. In manchen Fällen sind Fachleute für seelische Gesundheit gefragt.
Was habe ich hier gemacht?
Statt die Mail zu löschen – was zugegebenermaßen mein erster Impuls war – habe ich das Anliegen einem im offenen Verteiler nicht aufgeführten journalistischen Kollegen übermittelt, der erstens die Lage fachlich einordnen kann, zweitens die „Beschuldigten“ kennt und drittens weiß, ob es sich um ein Problem mit einer größeren Dimension handelt. Sofern auch er keine Relevanz für eine Berichterstattung sieht, hat er die Möglichkeit, den Fall an ein*e ärztliche*n Expert*in seiner Fachrichtung zu übergeben. Damit ist der absendenden Person mit großer Wahrscheinlichkeit mehr geholfen als mit einem Breittragen eines offenbar tragischen Geschehens aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich. Meine Meinung.
Weiterlesen über Behandlungsfehler.
Foto Briefkasten: Archiv Dagmar Möbius