Ungleiches, Mächtiges und Finanzielles

DAS ehrenamtlich gestemmte Projekt des Jahres ist gelaufen und zwar furios. Meinten zumindest zahlreiche Teilnehmende der Podiumsdiskussion „Wir reden über Macht und Geld“, die das Netzwerk Unternehmerinnen in Oberhavel am 15. März 2023 im Rahmen der Brandenburgischen Frauenwochen in Oranienburg veranstaltete. Der Saal der Orangerie war gut gefüllt, die Gäste netzwerkten intensiv und einige Schlüsselsätze blieben hoffentlich hängen. Ich gehörte dem siebenköpfigen Orga-Team an.

v.l.: Katharina Tolle, Carola Garbe, Manuela Röhken, Anja Ganschow, Petra Preussler, Dagmar Möbius, nicht auf dem Foto: Fotografin Steffi Rose

jwd im Schlosspark

Nun ist Oranienburg mit 46.000 Einwohner*innen nicht Berlin. Wie viele selbstständige inklusive freiberuflich tätige Personen die Stadt hat, vermochte Anfang des Jahres nicht einmal der Bürgermeister genau zu sagen. Für Berlinerinnen und Berliner ist die Kreisstadt jwd. Janz weit draußen. Vom restlichen Landkreis Oberhavel mit 215.800 Einwohner*innen (2021), der von der nördlichen Berliner Stadtgrenze bis an die Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern reicht, ganz zu schweigen. Vom Berliner Hauptbahnhof ist Oranienburg mit der Regionalbahn in weniger als 30 Minuten erreichbar, mit der S-Bahn in weniger als einer Stunde. Aus Potsdam braucht man mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine bis anderthalb Stunden. Zur Orangerie im Schlosspark sind noch 20 Minuten Fußweg zurückzulegen, wenn man nicht auf den alle 20 Minuten verkehrenden Linienbus warten möchte, der auch nicht vor der Tür hält. Erstaunlicherweise nahmen einige der Gäste diesen Aufwand in Kauf.

#beiunsdochnicht

Warum war uns dieses Projekt so wichtig? Als nichtkommerzielles Netzwerk haben wir keine Strukturen wie ein Unternehmen. Auch nicht die Ressourcen. Das ist so gewollt. Alles, was wir unternehmen, muss kalkuliert, eigenfinanziert und ordnungsgemäß abgerechnet und verbucht werden.

Selbstständig tätige Frauen müssen im ländlichen Bereich mehr sichtbar und mehr akzeptiert werden. Viele Dienstleistungen, für die sich Interessierte an die Großstadt wenden, sind regional verfügbar. Meist individueller, schneller, spezialisierter, gelegentlich preiswerter. „Bei uns doch nicht!“ ist das Motto der Brandenburgischen Frauenwochen 2023. Zu blinden Flecken hatten auch die Netzwerk-Mitglieder eine Menge zu sagen: Eine Blog-Reihe wurde vom 1. bis 14. März 2023 veröffentlicht. Es hätte noch viele Aspekte mehr zu behandeln gegeben. Worüber wir live sprechen wollten: über Macht und Geld.

Wie habt Ihr das gemacht?

Jede und Jeder, der selbstständig ist und sich regelmäßig weiterbildet, weiß, dass für TOP-Speakerinnen sehr viel Honorar anfällt. Berechtigt. Wir wollten keine politischen Akteure auf die Bühne holen, sondern Frauen aus der Region, die etwas zu sagen haben. Stellte sich für uns die Frage: Wie bekommen wir die Balance zwischen Anspruch und Ehrenamt hin? Um es kurz zu machen: Wir haben direkt gefragt. Die Moderatorin Nicole-Kristina David-Ulbrich und die meisten unserer Wunschkandidatinnen für das Podium sagten sofort zu. Ohne Bedingungen zu stellen. Das ist gelebte „sisterhood“, wie unsere Netzwerkfrau Carola Garbe, sagt.

v.l.: N.-K. David, K. Tolle, K. Derfler, E. Beune, J. Fulde und C. Garbe. Foto: Steffi Rose

Das waren unsere Gesprächspartnerinnen und ihre Thesen:

  • Elke Beune, Head of Corporate Communications & Brand, ORAFOL Europe GmbH: Partnerschaft und Ehe allein sind keine Vorsorgemodelle für Frauen.
  • Kristin Derfler, Creator, Drehbuchautorin & Creative Producerin: Nur 7 % der Tatort-Drehbücher stammen von Frauen.
  • Jenny Fulde, selbstständige Finanzberaterin & Vorsitzende der Wirtschaftsjunioren Oberhavel: Macht und Geld sind unisex.
  • Carola Garbe, Wirtschaftsingenieurin & Mediatorin: Geteilte Macht ist doppelte Macht!
  • Katharina Tolle, Autorin & Bloggerin & amtierende Netzwerksprecherin: Zugezogen aus NRW nach Brandenburg – Im Himmel der Gleichberechtigung?

Einen Extrakt der Diskussion habe ich hier für das Netzwerk veröffentlicht. Die Fotos stammen von Steffi Rose. Ganz wichtig: ohne viele helfende Hände wäre so ein Event nicht zu stemmen. Wir haben deshalb zuerst unseren stillen Heldinnen und Helden gedankt.

Was wir mitnehmen

Vier Monate Vorbereitung für drei Stunden Veranstaltung. Vorwiegend glückliche Gesichter. Stimmung wie beim Klassentreffen. Neue Kooperierende und neue Netzwerk-Mitglieder. Anregungen, auch kritische, fürs Weitermachen. Gestärkten Zusammenhalt. Entdecken neuer Fähigkeiten. Und die Erfahrung: Macht und Geld interessieren die Regionalpresse nicht – wenn Frauen darüber sprechen. Inwiefern die Geschlechterzusammensetzung von Redaktionen eine Rolle spielt und Erfahrungen mit widerständigen freien Mitarbeitenden, die nicht bereit sind, prekär zu arbeiten, sei dahingestellt. Wer nicht redet, wird nicht gehört. Das Netzwerk wird nicht verstummen. Denn viele gesellschaftliche Probleme gehen Selbstständige genauso an wie Angestellte. Von allein ändert sich nichts.

Was das mit Ungleichheit zu tun hat

Vorige Woche nahm ich an der Fachkonferenz „Ungleichheit. Ein Wort, viele Facetten“ des Netzwerks Recherche in Berlin teil. Sozialjournalismus ist nicht gerade Branchenliebling. Um so erfreulicher: Die Tagung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung war ausgebucht. „Wir stehen nicht für Schubladenforschung und tragen unsere Ergebnisse nach außen“, sagte die Präsidentin des WZB, Jutta Allmendinger. Forschende trugen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu Ungleichheit aus den Bereichen Umwelt, Justiz, Familie und Gesundheit sowie aus der Ungleichheitsforschung vor.

nr-Fachkonferenz Ungleichheit. Foto: Dagmar Möbius

Einige Kernsätze, die ich mitnehme:

 „43 % aller Autofahrten sind unter 5 km.“

Weert Canzler, Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am WZB

 „57 % der Frauen, aber nur 20 % der Männer arbeiten in Teilzeit.“

Lena Hipp, WZB

 „Ungleichheit ist änderbar.“

Jennifer Hoefers, Solidarisches Gesundheitszentrum Leipzig e.V.

„Angesichts von 6 Millionen Armutsbetroffenen müsste jedes Medium eine Hartz-IV-Seite haben.“

Jörg Wimalasena, Redakteur bei WELT

„Wir sind keine Betroffenen, sondern Menschen mit Armutserfahrung.“

„Es geht nicht um Gefühle, sondern um strukturelle Probleme.“

Renate A. Krause, Kiel

„Redet mit uns, nicht über uns.“

Susanne, #ichbinarmutsbetroffen

„Menschen untertreiben eher, als dass sie übertreiben.“

„Es hilft, Behörden Presseanfragen zu stellen.“

Helena Steinhaus, Gründerin von sanktionsfrei.de

Nischenjournalismus, der mir und den relativ wenigen „Sozialschreibenden“ zuweilen vorgehalten wird, ist gesellschaftlich relevant. Wer den Grundsatz „Sagen, was ist“ anerkennt, muss hinschauen, hinterfragen und berichten. Auch wenn es die „gewisse Mittelschichtverseuchung“, wie sie der WELT-Redakteur Jörg Wimalasena, nannte, der Medien nicht aufweichen wird, werde ich weiterhin soziale Themen behandeln.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert